Freitag, 23. November 2018

Sehr geehrter Herr Merz,

© Foto: CDU/Laurence Chaperon
es fällt mir manchmal schwer, zu glauben, wie gut jemand wie Sie bei den Leuten ankommt. Ein Mensch, dem eine neoklassische Wirtschaftspolitik schon in den Lebenslauf geschrieben ist, der sich mit einem Jahreseinkommen von über einer Million Euro als Angehöriger der "Mittelschicht" bezeichnet - wie abgehoben und realitätsfern kann man sich eigentlich geben?

Jetzt hat einer Ihrer Konkurrent*innen um den CDU-Vorsitz, Jens Spahn, das Thema Migration in die Debatte geworfen, indem er den UN-Migrationspakt öffentlich angezweifelt hat, zu dem sich die Unionsfraktion im Bundestag noch bekannt hatte. Er versucht damit, das sieht man sehr deutlich, ein bisschen von dem Vorsprung wettzumachen, den Sie und Frau Kramp-Karrenbauer inzwischen im Rennen um die Gunst der CDU-Delegierten zu haben scheinen, indem er seine alte Basis am rechten Unionsrand mit seinem Harter-Hund-Gehabe zu reaktivieren sucht. Das sind die Leute, die inzwischen Sie, Herr Merz, favorisieren. Kein Wunder also, dass Sie sich prompt bemüßigt fühlen, ebenfalls Ihren Senf dazuzugeben und zu zeigen, dass keiner in der Union rechter kann als Sie. Getreu dem Motto "es darf keinen demokratisch zu legitimierenden Kandidaten rechts von Friedrich Merz geben" haben Sie also bei einer der Regionalkonferenzen, bei denen Sie und Ihre Mitbewerber*innen um den CDU-Chefposten sich gerade den Mitgliedern Ihrer Partei vorstellen, öffentlich darüber philosophiert, ob es nicht an der Zeit wäre, das im Grundgesetz festgehaltene Grundrecht auf Asyl abzuändern und beispielsweise einen Gesetzesvorbehalt einzubauen.

Nun brauche ich Ihnen nicht zu erklären, dass das Grundrecht auf Asyl aus gutem Grund (haha!) in unserer Verfassung gelandet ist. Nach den Erfahrungen, die viele in der Nazizeit aus Deutschland fliehende Menschen auf ihrer Flucht machen mussten, den immensen Schwierigkeiten, in einem anderen Land aufgenommen zu werden und legal dort leben zu können, hielt man es nach dem Krieg für wichtig, ein individuelles Recht auf Asyl zu gewähren.
Ich brauche Ihnen sicher auch nicht zu sagen, dass dieses Grundrecht aktuell nur noch eine (allerdings sehr wichtige und starke!) symbolische Wirkung hat. Seit CDU/CSU, SPD und FDP 1993 im sogenannten "Asylkompromiss" eine Reihe von Ausnahmen ins Grundgesetz einfügten, wird kaum noch Menschen auf Grundlage dieses Grundgesetzartikels Asyl gewährt. Stattdessen bekommen die meisten Asylberechtigten Schutz auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention, die Deutschland unterschrieben hat und an die es damit gebunden ist.

Was Sie da anregen ist also, eine Grundgesetzänderung ohne echte Regelwirkung vorzunehmen, die aber eine fatale Symbolwirkung entfalten und eine wichtige Lehre aus den Erfahrungen der Nazizeit und des Krieges untergraben würde. Wie soll das bitte zu rechtfertigen sein?

Natürlich ist mir und allen anderen, die Sie dafür kritisieren, klar, dass es Ihnen weder um ein positives Signal noch um echte politische Veränderungen geht. Sie wollen sich lediglich im Kampf um den CDU-Vorsitz profilieren und nutzen die Vorlage, die Ihnen der Kollege Spahn und die AfD mit ihrem ständigen Tanz um das goldene Kalb der Geflüchteten- und Einwanderungspolitik liefern.
Aber ganz ehrlich: Welche Art Politik haben wir von einem CDU-Chef und vielleicht einmal von einem Kanzler zu erwarten, der einen der Grundwerte unserer Demokratie leichtfertig zur Debatte stellt, um seine eigene Karriere zu pushen? Kann irgendjemand noch annehmen, dass Sie als Parteichef ein anderes Ziel als die Kanzlerschaft, dass Sie als Kanzler ein anderes als die Wiederwahl im Auge hätten? Aktionen wie diese entlarven jede Behauptung, Politik nicht für sich, sondern, "für die Menschen", "fürs Land", "für Europa" oder für irgendein inhaltliches Ziel zu betreiben, als reine Wahlkampfmasche.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

stern.de: Weshalb Friedrich Merz' Asyldebatte überflüssig ist - und worum es dabei eigentlich geht
spiegel.de: Grundrecht auf Quatsch

Bildquelle:

https://www.friedrich-merz.de/img/Pressebilder_Friedrich_Merz.zip

Samstag, 10. November 2018

Sehr geehrter Herr Spahn,

© BMG
wenn es um die ganz großen Fragen geht, ist Ihnen nichts mehr heilig. Die ganz großen Fragen - ich spreche hier nicht von der Frage nach dem Sinn des Lebens, von der Klimakrise, der europäischen Solidaritätskrise oder den monströsen Müllansammlungen in den Ozeanen. Nicht einmal vom Pflegenotstand, der ja immerhin in Ihren Aufgabenbereich als Gesundheitsminister fällt. Nein, die größte aller Fragen aus der Perspektive eines Jens Spahn ist die:Wer wird neue*r CDU-Parteivorsitzende*r? Und alles andere muss sich bis zur Entscheidung dem Ziel unterordnen, dafür zu sorgen, dass Sie selbst diesen Posten erobern und sich damit möglicherweise den Weg ins Kanzleramt ebnen.

Folglich entfalten Sie in der letzten Zeit die absurdesten Aktivitäten, um auf sich aufmerksam zu machen. Schon vor Angela Merkels Ankündigung, nicht noch einmal für den CDU-Vorsitz kandidieren zu wollen - insbesondere in diesem Jahr seit der Bundestagswahl, in dem ununterbrochen Merkels Führungsschwäche und ihre baldige Ablösung beschworen wurde - haben Sie sehr klar gemacht, dass Sie ihr nachzufolgen gedenken. Um diesen Anspruch zu untermauern fühlten Sie sich als Gesundheitsminister zuständig für die Geflüchtetenpolitik, erklärten im Brustton der Überzeugung (und mit dem Einkommen eines Bundesministers im Rücken), mit Hartz 4 sei man ja noch lange nicht arm und in der Abtreibungsdebatte meldeten Sie sich mit einem eigenwilligen Vergleich zum Tierschutz zu Wort.

Jüngstes Beispiel für dieses ständige, fingerschnippend-penetrante Attention-whoring im Kampf um die christdemokratische Krone ist Ihr Vorschlag, die Sozialbeiträge für Menschen ohne Kinder zu erhöhen. Die Begründung, Familien seien auf diese Weise zu entlasten, hört sich ja im Grunde ganz nett an. Das Problem ist, dass Menschen ohne Kinder nicht automatisch mehr Geld haben, als Eltern. Würden alle Menschen hier im Land gleich viel Geld verdienen, dann wäre es nicht ganz unlogisch, diejenigen zu entlasten, die zusätzliche Ausgaben für ihre Kinder haben und dafür diejenigen stärker zu belasten, die diese Ausgaben nicht haben. Schließlich profitieren - wie Sie richtig anmerkten, letztendlich alle von diesen Kindern - und sei es nur dadurch, dass die heutigen Kinder später die Rente ihrer Elterngeneration bezahlen.
Leider bekommen aber nicht alle Menschen gleich viel Geld und aus diesem Grund setzt Ihr Vorschlag gneau an der falschen Stelle an. Umverteilung (auch, wenn Sie das Wort wahrscheinlich nicht mögen: Es passt!) ist nur sinnvoll, wenn die, die einen Überfluss haben, dabei etwas abgeben müssen und dafür diejenigen etwas dazubekommen, bei denen Mangel herrscht. Ihr Vorschlag orientiert sich aber nicht an den Kategorien "Überfluss" und "Mangel", sondern schlicht und ergreifend an der Produktion eines von Ihnen geschätzten Guts: Künftiger Arbeitskräfte. Erleichterungen und Mehrbelastungen wie Sie sie planen müssen daran festgemacht werden, welche Menschen in Relation zu ihrem individuellen Bedarf nicht genügend Geld haben und welche mehr haben, als sie brauchen. Beim Ermitteln des Bedarfs müssen Kinder natürlich eine Rolle spielen - wer aber 5000 Euro Netto im Monat verdient, braucht auch dann nicht auf Kosten eines für den Mindestlohn angestellten Menschen bessergestellt zu werden, wenn erstere Person Kinder hat und die zweite nicht.

Nun haben Sie sich schon seit längerer Zeit alle Mühe gegeben, sich als Merkel-Nachfolger in Positur zu werfen und haben auch erreicht, dass man Ihren Namen inzwischen deutschlandweit kennt und zuordnen kann. Eine Weile lang galten Sie auch als Favorit des rechten Unionsflügels für die Merkel-Nachfolge.
Dann kam Merz.
Jüngste Umfragen sehen Sie weit abgeschlagen auf dem dritten Platz hinter Annegret Kramp-Karrenbauer und dem konservativ-marktliberalen einstigen Merkel-Konkurrenten, die sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern - und zwar sowohl bei einer Befragung in der Gesamtbevölkerung als auch unter CDU-Mitgliedern. Zwar sind letztendlich nur die Delegierten auf dem Parteitag stimmberechtigt, aber bei einem Rückstand von 20-25% bei den Umfragen sieht es für Sie trotzdem nicht rosig aus.
In dieser Situation sei die Frage erlaubt: Was, wenn Sie verlieren? Was, wenn eine*r der anderen beiden Kandidat*innen das Rennen macht? Woran richtet ein Jens Spahn seine Politik aus, wenn es auf absehbare Zeit keinen Parteivorsitz und keine Kanzlerschaft zu gewinnen gibt? Widmen Sie sich sofort mit aller Kraft dem Sturz des oder der siegreichen Konkurrent*in? Oder resignieren Sie - und fangen zur Abwechslung mal an, nicht über die aufmerksamkeitsträchtigsten, sondern über die sinnvollsten Äußerungen nachzudenken? Sie sind bestimmt kein unfähiger Politiker - wenn Sie erst einmal anfangen, Politik als inhaltliche Arbeit an wichtigen Themen und nicht nur als Karriere zu begreifen.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

welt.de: Spahn verteidigt seine "schräge Idee"
zdf.de: CDU-Vorsitz - Kramp-Karrenbauer mit knappem Vorsprung vor Merz
waz.de: Hartz IV bis Abtreibung - Jens Spahns kontroverseste Zitate

Bildquelle:

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/pressefotos.html