Freitag, 15. Dezember 2017

Sehr geehrter Herr Dobrindt,

keinen Bock auf regieren? Lieber Neuwahlen und auf Schwarz-Gelb hoffen? Keine Frage, mit der FDP zu regieren wäre für Ihre Partei bestimmt um einiges entspannter. Schaut man sich die aktuellen Umfragen an, stehen die Chancen für ein solches Bündnis allerdings eher schlecht. Die CDU/CSU steht relativ unbeweglich auf ihrem Ergebnis vom September, die FDP dagegen hat eher ein paar Pünktchen verloren.


Was also ist Ihr Plan? Dass Sie unter keinen Umständen eine GroKo wollen, haben Sie ja recht deutlich zum Ausdruck gebracht. Sicher, kaum jemand will Schwarz-Rot wirklich, aber die meisten Unionspolitiker hören sich eher so an, als zögen sie diese Option möglichen Neuwahlen vor. Sie dagegen lehnen es ab, der SPD auch nur in einer ihrer wichtigsten Forderungen entgegenzukommen - und das, bevor die Sozialdemokraten auch nur Sondierungsgesprächen zugestimmt hätten. Bürgerversicherung - auf keinen Fall. Familiennachzug - unter gar keinen Umständen. Wen Sie nicht annehmen, dass die SPDler sich einer Koalition mit der Union anschließen, ganz einfach, weil sie Horst Seehofer so sympathisch finden, kann das nur heißen, dass Sie diese Koalition von vornherein ablehnen. Sie haben nicht nur eine rote Linie definiert - Sie haben das Regierungsprogramm der Union passgenau mit roten Linien umrahmt. Ohne Spielraum aber gibt es keine Verhandlungen. Die SPD hat ein eigenes Wahlprogramm und wird dieses nicht einfach ohne Gegenleistung zu den Akten legen.

Das Argument, selbst die Grünen seien dazu bereit gewesen, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte weiterhin auszusetzen, ist im Übrigen erlogen. Zumindest gibt es nicht den Verhandlungsstand wieder, den die Sondierungsparteien kurz vor Ende der Sondierungen in die Öffentlichkeit getragen haben. Der Vorschlag der Grünen lautete, die Zahl von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr nicht als Obergrenze, sondern als "atmenden Deckel", einzuführen, aber nur, wenn dafür der Familiennachzug wieder möglich ist. Natürlich kann man sich über diesen Kompromiss trefflich streiten. Zu behaupten, die Grünen seien zu einer weiteren Aussetzung bereit gewesen, beschreibt aber ziemlich genau das Gegenteil dessen, was die Verhandlungen gezeigt haben. Ihr eigener Parteichef Seehofer hingegen hatte schon erkennen lassen, dass er mit einem solchen Kompromiss hätte leben können.

Auch die Behauptung, "die Menschen woll[t]en [...] nicht mehr Zuwanderung, eher weniger" ist eine Frechheit. Hier verallgemeinern Sie in einer Weise, die einfach nicht zulässig ist. Was "die Menschen" wollen haben zunächst mal nicht Sie zu definieren, schon gar nicht, ohne Beweise dafür zu erbringen. Des Weiteren gibt es unter den Menschen, auf die Ihre Aussage zutrifft, mit hoher Wahrscheinlichkeit einen nicht unbedeutenden Anteil, der sich zwar aus diffusen Gründen allgemein Sorgen über die Zuwanderung macht, der aber trotzdem der Meinung ist, dass man Menschen aus Kriegsgebieten aufnehmen muss und dass auch die Familien der Menschen, die hier ankommen, unseren Schutz brauchen und das Recht darauf haben, zusammenzubleiben.

Herr Dobrindt, Sie arbeiten mit unehrlichen Argumenten, um entweder Neuwahlen zu erzwingen - was Ihnen laut aktuellen Umfragen nicht zupass käme - oder Ihre Verhandlungsposition zu stärken - was nicht funktioniert, weil das Prinzip solcher Handlungen darin besteht, dass beide Seiten sich aufeinander zubewegen. Wie auch immer die ganze Sache ausgeht: Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie scheitern, ist ziemlich hoch. Aber ganz ehrlich, bei solchen Äußerungen wünsche ich Ihnen gar nichts anderes.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:
fr.de: CSU lehnt Kernforderungen der SPD ab

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Freitag, 8. Dezember 2017

Sehr geehrte Frau Malmström,

Sie als Handelskommissarin der Europäischen Union mussten sich zum Thema Freihandel schon so einiges anhören. Die Kritik an Freihandelsabkommen wie TTIP, CETA oder JEFTA reißt nicht ab; neben der Abschwächung von Qualitätsstandards in verschiedensten Bereichen wird beispielsweise eine Aushöhlung demokratischer Entscheidungsfindung befürchtet, die mit der Möglichkeit einherginge, als Unternehmen vor privaten Schiedsgerichten gegen einen  Staat zu klagen, wenn dessen Gesetzgebung nicht in meine Pläne passt. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund, wie Sie es schaffen, den genannten Freihandelsabkommen immer noch bar jeder Kritik zu begegnen.

Dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung der EU nicht mit diesen Abkommen einverstanden ist - schon gar nicht, wenn sie dermaßen intransparent verhandelt werden und konsequent versucht wird, die Mitbestimmung der EU-Bürger so gering wie möglich zu halten - ist längst auf unterschiedlichste Weise zum Ausdruck gekommen. Darüber sollten Sie also im Bilde sein. Warum drängen Sie dann aber immer noch auf ein Abkommen nach dem anderen? Und - das ist die eigentliche Frage - warum entstehen und funktionieren diese Abkommen offenbar nach wie vor nach dem selben Muster, das schon so oft scharf kritisiert wurde?

Aktuelles Beispiel ist das geplante Freihandelsabkommen mit den Staaten des MERCOSUR-Verbunds, also mit Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay. In der Öffentlichkeit ist von den Verhandlungen kaum etwas bekannt, die Verhandlungsdokumente sind geheim. Erst die Veröffentlichung geleakter Dokumente durch Greenpeace gibt uns einen Überblick über den Verhandlungsstand vom Sommer.

In Sachen Transparenz haben Sie also offenbar nichts dazugelernt. Aber was ist mit dem Inhalt?
Auch hier sieht es nicht besser aus. Besonders fällt ein Kuhhandel ins Auge, der einen ganz guten Eindruck davon ermöglicht, wessen Vorteil bei diesem Abkommen im Mittelpunkt steht: Die EU-Kommission möchte gerne den Export europäischer Autos ankurbeln und die MERCOSUR-Staaten zu diesem Zweck dazu überreden, die Zölle auf Autos und Autoteile aus der EU zu senken. Dafür haben Sie sich bereit erklärt, Verbraucherschutzstandards für den Import von Fleisch(-produkten) aus Südamerika zu senken, wo beispielsweise der Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht weitaus weniger restriktiv gehandhabt wird.

Man muss sich die Situation der beiden genannten Industriesparten vor Augen führen, um die ganze Absurdität dieses Handels zu begreifen. Die südamerikanische - namentlich die brasilianische - Fleischindustrie hatte erst vor wenigen Monaten mit einem massiven Gammelfleischskandal zu kämpfen, in dem durch Korruption das gesamte Prüfsystem ausgehebelt wurde. Jetzt schlägt die Kommission vor, die Kontrollen beim Import durch ein Schnellverfahren zu ersetzen und beispielsweise die exportierenden Unternehmen gar nicht mehr selbst zu prüfen.
Auf der anderen Seite beschäftigt sich die EU - hier besonders der zentrale Player Deutschland - schon seit geraumer Zeit mit Skandalen rund um illegale Manipulationen der Abgaswerte von Autos, in die fast die komplette Autoindustrie verwickelt ist. Auch das Auto-Kartell, das illegale Absprachen zum Nachteil der Verbraucher getroffen hat, ist noch nicht hinreichend aufgearbeitet.

Nehmen sich hier also zwei Großproduzenten fragwürdiger Güter gegenseitig ab, was sonst keiner mehr haben will? Den wichtigsten Industriezweigen der beiden Vertragspartner würde das Abkommen sicherlich helfen. Diese Hilfe geht aber komplett auf Kosten der Verbraucher. Die Südamerikaner bekommen schlechte Autos, wir kriegen antibiotikatriefendes Gammelfleisch. Wie verbinden Sie das mit Ihrer Verantwortung für das Wohl der Europäer, Frau Malmström?

Zusätzlich zu diesen direkten Nachteilen muss bei den Fleischimporten aus den MERCOSUR-Staaten auch noch eine negative Auswirkung auf die hiesige Landwirtschaft bedacht werden: Wenn billiges, unter den Bedingungen geringer Tierschutz- und Gesundheitsstandards erzeugtes Fleisch aus Südamerika zollfrei nach Europa kommt, werden alle Landwirte, die sich an die hiesigen Standards halten, arge Probleme bekommen, dem Preisdruck standzuhalten. Die Entwicklung hin zu mehr Tierwohl, zu größeren Ställen, mehr Auslauf, abwechslungsreicherem Futter und anderen derartigen Veränderungen wird ausgebremst, wenn die europäischen Bauern sich auf einmal eines Überangebots von Billigfleisch erwehren müssen. Entweder werden sie diesen Kampf verlieren, oder die Standards hierzulande werden gesenkt, um die hiesigen Bauern konkurrenzfähig zu machen.
Das ist nicht nur moralisch fragwürdig, sondern fällt spätestens dann auf den Verbraucher zurück, wenn auch hier wieder laxere Bestimmungen zum Medikamenteneinsatz eingeführt werden.

Was haben Sie gegen die Verbraucher in Europa, Frau Malmström? Ist es wirklich nötig, ihnen all das zuzumuten, um eine Industrie zu unterstützen, die uns alle, Sie und mich eingeschlossen, jahrelang an der Nase herumgeführt hat, der es aber trotzdem immer noch so gut geht, dass sie eine derartige Unterstützung gar nicht nötig hat? Wenn Sie von der Idee des Freihandels so überzeugt sind, dann sorgen Sie doch bitte dafür, dass er nicht auf Kosten von Interessen umgesetzt wird, die uns alle etwas angehen. Und beweisen Sie dieses Umdenken, indem Sie die Öffentlichkeit an den (Zwischen-)Ergebnissen der Verhandlungen teilhaben lassen und somit eine breite Debatte ermöglichen!

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

taz.de: Tausche Stinker gegen Gammelfleisch
Europäische Kommission: Commissioner Malmström on the benefits of open trade with Mercosur
taz.de: Freihandel erschwert Agrarwende

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Freitag, 1. Dezember 2017

Sehr geehrte Deutsche,

wir haben ein Problem. Ein ernstes Problem. Genauer gesagt haben wir das Problem, dass wir ein ernstes Problem haben (bis hierhin ein toller Satz!), dieses aber nicht als solches erkennen. Gewissermaßen ein Metaproblem. Klar soweit?

Konkret geht es mal wieder um den Abgasskandal, der uns hier in Deutschland schon eine ganze Weile lang beschäftigt. Zur Erinnerung: Eine ganze Reihe von Autoherstellern hat nicht nur - was schon bekannt war - die sehr laxen Testvorschriften für die Abgastests so weit ausgenutzt, dass der Ausstoß ihrer Autos im Test weitaus geringer ausfiel, als im Normalbetrieb, sondern zusätzlich Vorrichtungen installiert, die erkennen, ob gerade ein Test durchgeführt oder auf der Straße gefahren wird, und die Abgasreinigung beim Straßenbetrieb einfach abschalten. Das Ergebnis: Obwohl die gesetzlichen Grenzwerte für den Ausstoß von Schadstoffen - hier ging es vor allem um Stickoxide - stufenweise immer weiter abgesenkt wurden, ist der Ausstoß der Neuwagen eher noch gestiegen. Gerade für Großstädte bedeutet das eine erhebliche Belastung - und für ihre Bewohner ein erhöhtes Risiko von Atemwegserkrankungen. Hinzu kamen dann noch Informationen über eine Kartellbildung der wichtigsten deutschen Autobauer, bei der unter anderem vereinbart wurde, die Tanks für den zur Abgasreinigung benötigten Harnstoff viel zu klein zu dimensionieren und über die Einflussnahme von Auto-Lobbyisten auf die Festsetzung der eben erwähnten Grenzwerte. Es gäbe also jede Menge Gründe, die (deutsche) Autoindustrie mit Skepsis zu betrachten. Mindestens ebensoviele Gründe ließen sich für die Behauptung finden, dass endlich wirksame Maßnahmen gegen den viel zu hohen Ausstoß von Stickoxiden und CO2 (es ist zwar in der Öffentlichkeit etwas zu kurz gekommen, aber auch die CO2-Grenzwerte werden von vielen Modellen um ein Vielfaches überschritten) getroffen werden müssen.

Was aber sagen die Deutschen dazu? Fordern sie die Durchsetzung strenger Grenzwerte oder die Einführung realistischer Testverfahren? Setzen sie sich für eine wirkungsvolle Bestrafung der Auto-Konzerne ein?

Fehlanzeige.
Laut einer Studie des Marktforschungsinstituts GfK halten gerade mal 14,1% der Deutschen Fahrverbote für die besonders schmutzigen Dieselfahrzeuge in den am stärksten verschmutzten Städten für sinnvoll, "wenn eine saubere technische Lösung nicht möglich ist". Es ging also nicht einmal darum, tatsächlich pauschal Dieselverbote in den Städten auszusprechen. Vielmehr beinhaltet schon die Formulierung, dass die Dieselverbote nur dann möglich sein sollten, wenn es keine technische Lösung für das Problem gibt. Wenn sich selbst dafür nur 14,1% der Befragten aussprechen, heißt das bei einem "Weiß ich nicht"-Anteil von 6,4%, dass ganze 79,5% der Deutschen selbst dann, wenn die Grenzwerte anders nicht mehr einzuhalten sind, keine Dieselverbote akzeptieren würden. Was ist los mit den umweltbewussten Mülltrennungs-Dosenpfand-Klimaschutz-Deutschen?

Selbst auf die nächstradikale Stufe von Umweltschutzmaßnahmen können sich fast die Hälfte der Deutschen nicht einlassen: 49,9% der Befragten wären selbst dann gegen eine Förderung emissionsfreier oder -armer Fortbewegungsmethoden, wenn Verbote von Dieselfahrzeugen ausdrücklich ausgeschlossen wären. 31,2% halten die ganze Diskussion um den Dieselskandal sogar für völlig überzogen und wollen offenbar gar keine Konsequenzen in Politik und Wirtschaft.

Was sagen uns diese Zahlen? Die Meinungen hierzu dürften weit auseinandergehen - je nachdem, ob die relativ abstrakte Größe des Erkrankungs- und Sterberisikos durch erhöhte Stickoxidbelastung als wichtiger eingeschätzt wird, oder die für den Einzelnen doch sehr konkrete Frage, ob er mit seinem Dieselauto noch nach Stuttgart hineinfahren darf. Das Problem mit den großen Problemen unserer Welt ist aber nun einmal, dass sie oft weitaus abstrakter und schwerer zu erfassen sind, als die Einschränkungen, denen ihre Bekämpfung uns im Alltag unterwirft. Die Belastung durch und Verteilung von Stickoxiden ist nichts, was man ohne Weiteres beobachten könnte. Der Klimawandel lässt sich aus Messergebnissen und Berechnungen folgern, direkt erfahren kann man nur seine Folgen. Diese werden aber hauptsächlich als Einzelphänomene betrachtet und kaum in einen größeren Zusammenhang gestellt. Niemand kann schließlich sagen, ob ausgerechnet dieser Sturm ohne den Klimkawandel nicht entstanden wäre. Genausowenig kann irgendjemand feststellen, ob ausgerechnet meine Bronchitis oder mein Asthma eine Folge der Stickoxidbelastung ist, oder ob ich die Krankheit sowieso bekommen hätte. Hohe Stickoxidbelastungen führen nicht zwingend zu einer Erkrankung. Dagegen führt ein Dieselfahrverbot zwingend dazu, dass ich mein Auto in bestimmten Bereichen nicht mehr nutzen darf.

Was bei dieser eher unbewussten Rechnung außen vor bleibt ist die Frage nach der Schwere des Schadens, den ich riskiere. Der Wertverlust meines Autos durch die eingeschränkte Nutzung ist ärgerlich. Atemwegserkrankungen hingegen können eine erhebliche Einschränkung der Lebensführung bedeuten und unter Umständen sogar zum Tod führen. Dieses höhere Risiko wird nur deshalb eingegangen, weil es unwahrscheinlich erscheint, dass es ausgerechnet mich trifft. Aber sollte das ausschlaggebend sein?
Ich denke nein. Irgendjemanden wird es immer treffen. Viele hat es schon getroffen. Das Ziel, die Zahl derer, die unter den Folgen der Luftverschmutzung zu leiden haben, möglichst gering zu halten, sollte uns allen reichen, um auf ein bisschen Komfort und einen Teil unseres materiellen Reichtums zu verzichten.

Ich würde mir wünschen, dass wesentlich mehr Menschen hier und anderswo zu derartigen grundlegenden Gedanken der Solidarität finden. Nur, indem jeder einzelne für die Lösung der gemeinsamen Probleme aller einzustehen bereit ist, können diese Probleme nachhaltig gelöst werden.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:
Presseportal.de: Nur 14 Prozent der Deutschen sprechen sich für Dieselfahrverbot aus
swr.de: 8 Fakten zu Feinstaub und Stickoxiden

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Freitag, 24. November 2017

Sehr geehrter Herr Schulz,

(c) Susie Knoll
manche werden sagen, Sie hätten es sich nach der Bundestagswahl zu einfach gemacht. Ich bin der Meinung, sie mach(t)en es sich schwer. Ich glaube aber auch, sie konnten es sich nicht viel einfacher machen.

Die kategorische Absage an eine erneute Große Koalition schien folgerichtig, nachdem die SPD bei der Wahl das schlechteste Ergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte eingefahren hatte. Sofort waren aber auch Stimmen zu hören, die von "staatspolitischer Verantwortung" sprachen und der SPD "Pflichtvergessenheit" vorwarfen.
Etwa ein fünftel der Wähler (bzw. nicht ganz ein Sechstel der Wahlberechtigten) wollte der SPD vor allen anderen Parteien ein Regierungsmandat erteilen. Das sind nicht so viele. Bezieht man diejenigen in die Berechnung mit ein, die zwar die SPD stärken, auf keinen Fall aber eine neue GroKo provozieren wollten, bleibt nicht viel Spielraum für weitere schwarz-rote Erwägungen. Von Großen Koalitionen hat der überwiegende Teil der Deutschen die Nase voll.

Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen hieß es zunächst aus SPD-Kreisen, die Position der Partei sei unverändert. Sie selbst, Herr Schulz, sprachen sich bis vor Kurzem klar für Neuwahlen aus. Einige Ihrer Mitstreiter brachten allerdings schon vor ein paar Tagen die Option einer tolerierten CDU-Minderheitsregierung ins Spiel. Die SPD könnte also eine Art Abmachung mit der CDU treffen, in der sie zusichert, den Vorhaben der Union im Bundestag zuzustimmen, ohne selbst an der Regierung beteiligt zu sein. Dieses Vorgehen, so die Hoffnung, würde eine stabile Regierung zur Folge haben und der SPD erlauben, in Verhandlungen mit der CDU Punkte aus dem eigenen Wahlprogramm ins Regierungsprogramm der nächsten Jahre zu schmuggeln. Gleichzeitig müsste die Partei, da sie ja offiziell nicht an der Regierung beteiligt wäre, nicht die Verantwortung für Unions-Projekte tragen, die der potentiellen SPD-Wählerschaft nicht gefallen. Win-win also.

Lassen Sie es mich kurz machen: Ich halte diese Prognose für falsch. Der Verzicht auf machtvolle Posten in der Regierung soll zwar zeigen, das die SPD für ihre Inhalte steht und nicht für pures Machtstreben. Was er tatsächlich transportiert ist aber der Eindruck, die Sozialdemokratie habe sich aufgegeben. Man will keine Verantwortung, weil man Angst vor dem weiteren Absturz in vier Jahren hat, man will keine Neuwahlen, weil man in ein paar Monaten ebenfalls eine noch größere Katastrophe befürchtet, als die, die im September eingetreten ist. Und selbst wenn die Minderheitsregierung hält - wer sagt denn, dass die SPD dann zur nächsten Wahl besser dasteht? Die Wähler merken sehr wohl, dass eine Fraktion, die einem Gesetz zustimmt, auch zu einem guten Teil für dieses Gesetz verantwortlich ist. Wenn diese Fraktion darauf verzichtet hat, an der konkreten Ausgestaltung des Gesetzes teilzunehmen, heißt das nur, dass seine positiven Wirkungen ihr nicht oder nur extrem wenig zugerechnet werden. Ein Aufbäumen gegen als negativ empfundene Gesetze wird allerdings immer noch erwartet. Auch eine echte Oppositionsarbeit wäre so nicht möglich - schließlich müssten sich die SPD-Parlamentarier ständig dafür rechtfertigen, dass sie die Regierungslinie stützen. Wie sollen sie sie da wirkungsvoll kritisieren?

Durch die Intervention von Bundespräsident Steinmeier ist aktuell auch eine Große Koalition wieder denkbar. Sie, Herr Schulz, haben angekündigt, im Falle von Verhandlungen letztlich die SPD-Mitglieder über eine Regierungsbeteiligung abstimmen zu lassen. Das ist löblich, befreit Sie jedoch nicht von dem Problem, das Ihre Partei bereits durch die letzten vier Jahre begleitet hat: Wer als Juniorpartner in Merkel-Koalitionen regiert, kann nur verlieren. Gut, auch die Bundeskanzlerin ist durch das Ergebnis der Wahlen vom September angeschlagen. Ein Zeichen, dass ihre Art zu regieren sich ändern könnte, diese Taktik also, mit der sie sich stets die in der Bevölkerung mehrheitsfähigen Stücke aus dem Wahlprogramm anderer Parteien herauspickt und eine weichgespülte Version davon als ihren Erfolg verkauft, ein Zeichen eines solchen Wandels gibt es nicht. Daher ist meine Prognose: Eine weitere Große Koalition zerstört die SPD, wenn nicht nachhaltig, dann zumindest für so lange, bis sie mal wieder die Gelegenheit hatte, auf Bundesebene Oppositionsarbeit zu machen.

Was ist nun der Ausweg? Vielleicht doch Neuwahlen? Ich gebe zu, Ihre Situation ist verfahren. Ideal wäre eine Regierung ohne die SPD, die der deutschen Sozialdemokratie die Möglichkeit verschafft, sich als Oppositionspartei wieder ein paar erkenn- und von anderen Parteien unterscheidbare Ideale zuzulegen. Eine Regierungskoalition ganz ohne die SPD ist aber leider nicht in Sicht. In dieser Lage bleibt nur die Wahl des kleineren Übels. Aus meiner Sicht sind das die Neuwahlen verbunden mit der Hoffnung, dass sich auf diesem Wege doch noch eine tragfähige Regierungskoalition ohne SPD ergibt. Sicher, die Partei könnte dabei noch weiter abrutschen. Was Sie aber vor allem brauchen ist die Zeit, sich als Partei neu zu formieren und ein erkennbares Profil zu entwickeln. Das geht nicht in einer Regierung mit all ihren Kompromissen und erst recht nicht beim Tolerieren einer Minderheitsregierung.

Eine - wenn auch unwahrscheinliche - Chance einer Neuwahl möchte ich noch ansprechen: Was, wenn es gegen alle Erwartungen doch eine rot-rot-grüne Mehrheit gibt? Wenn der Abwärtstrend der Union sich fortsetzt, der Abbruch der Jamaika-Sondierungen durch Christian Lindner FDP-Wähler vertreibt und sich die nunmehr unschlüssigen Wahlberechtigten SPD und Grünen zuwenden? In einer solchen Regierung bestünde nicht die Gefahr, als Juniorpartner untergemerkelt zu werden. Die SPD würde den Kanzler stellen und ihre Erfolge selbst in Anspruch nehmen können. Inwiefern diese Konstellation zu besseren Ergebnissen bei der nächsten Bundestagswahl führt, hinge allerdings weiterhin davon ab, wie gut es Ihnen und Ihrer SPD gelingt, sich bis dahin ein erkennbares und glaubhaftes sozialdemokratisches Profil zuzulegen. Was auch immer die nächsten Wochen und Monate bringen - bei dieser Aufgabe wünsche ich Ihnen viel Erfolg.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

Welt.de: Jusos applaudieren frenetisch für Nein zur Großen Koalition
Spiegel online: Schulz würde SPD-Mitglieder über GroKo abstimmen lassen

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Freitag, 17. November 2017

Sehr geehrte Frau Hendricks,

ich möchte Sie beglückwünschen. Das von Ihnen beim Kieler Verfassungsrechtler Wolgang Ewer in Auftrag gegebene Gutachten ist aus Ihrer Sicht als Bundesumweltministerin sicher ein voller Erfolg. Schließlich bestätigt Ewer, dass die Bundesregierung mit der geplanten Abschaltung der letzten deutschen Aomkraftwerke 2022 auch die Urananreicherungsanlage in Gronau und die Brennelementefabrik in Lingen schließen darf, die etwa 10% des weltweiten Bedarfs an Brennelementen decken und beispielsweise die überalterten und störanfälligen Reaktoren beliefern, die in Frankreich (Fessenheim und Cattenom) und Belgien (Doel und Tihange) nicht weit von der deutschen Grenze stehen.

Das Gutachten gibt denjenigen Munition, die schon lange darauf drängen, dass Deutschland sich aus der Atomstrom-Produktion komplett heraushalten muss. Gut so! Zu einem richtigen Atomausstieg gehört auch der Abschied aus der kompletten Verarbeitungskette. Sonst stützen wir anderswo eine Technologie, die wir hierzulande ächten, weil sie uns zu gefährlich erscheint. Aber was heißt hier anderswo? Wenn es in Frankreich oder Belgien zu einer Kernschmelze kommt, machen die paar Kilometer bis Deutschland keinen großen Unterschied.

Ihre Einschätzung, dass die Produktion von Brennelementen in Deutschland so bald wie möglich ein Ende finden muss, kann ich also nur unterstützen. Nachdenklich stimmt mich eher der Zeitpunkt dieses Vorstoßes. Im Februar dieses Jahres haben Sie das Gutachten bei Herrn Ewers in Auftrag gegeben - fertig geworden ist es erst, als von Ihnen als Umweltministerin einer scheidenden Regierung niemand mehr einen Gesetzesentwurf erwartete. Sie sind auf dem Weg in die Opposition, Frau Hendricks. Ist das der Grund dafür, dass Sie auf einmal Lust auf dieses schwierige Thema haben?
Wäre ein solches Gutachten mitten in der Legislaturperiode herausgekommen, dann wäre das, was damit erreicht worden wäre, als Ihr Erfolg oder Misserfolg ausgelegt worden. Durch die veröffentlichung knapp vor Amtsübergabe schieben Sie die Pflicht, zu handeln, Ihrer/m Nachfolger(in) zu, während Sie sich selbst einen guten Grund verschaffen, aus der Opposition gegen sie oder ihn zu wettern. Dass Sie das Gutachten schon im Februar in Auftrag gegeben haben, macht keinen großen Unterschied - der Wahlkampf ging gerade los und ein in Auftrag gegebenes Gutachten klingt nach Fortschritt, erspart es einem aber zunächst, eine politische Entscheidung durchzukämpfen.

Bei allem Zweifel an Ihren Motiven muss ich doch sagen: Das Gutachten und der politische Weg, den es öffnet, sind richtig und wichtig. Wenn es wirklich zu einer Jamaica-Koalition kommen sollte (ich las gerade die schöne Bezeichnung "Schwagrülb", die mir eigentlich besser gefällt - insbesondere klanglich), wäre es sicher nicht schlecht, wenn Sie aus der Opposition auch an dieser Stelle nicht locker lassen. Ob ich Sie noch einmal in Regierungsverantwortung sehen möchte, weiß ich allerdings noch nicht. Ich hätte mir von Ihnen in einer so wichtigen Frage schon früher mehr Initiative gewünscht.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

NDR.de: Gutachten: Atomfabriken können stillgelegt werden
RP-online: Atomfabriken Gronau und Lingen dürfen stillgelegt werden

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Freitag, 10. November 2017

Sehr geehrter Herr Mohammed bin Salman al-Saud,

schon lange bevor Sie im Juni dieses Jahres zum Kronprinzen Saudi-Arabiens ernannt wurden, war der Krieg im Jemen ganz wesentlich Ihr Projekt. Die Militärintervention - das Wort Krieg nimmt man ja heutzutage nicht mehr in den Mund, wenn man nicht über längst vergangene Tage spricht - steht unter saudischer Führung und Sie sind seit der Thronbesteigung Ihres Vaters 2015 Verteidigungsminister. Man sollte meinen, dass jeder Krieg als humanitäre Katastrophe bezeichnet werden kann - der Einsatz im Jemen übertrifft hierin jedoch die meisten anderen. Auf Zivilisten wird keine Rücksicht genommen, ganze Provinzen werden zum Ziel von Bombardements erklärt - so wie im Mai 2015 die Provinz Sa'da. Inzwischen sind mehr als 70% der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das sind etwa 20 Millionen Menschen.

Der Stellvertreterkrieg, den Sie sich im Jemen mit dem Iran liefern (der aber zugegebenermaßen inzwischen mehr beteiligte Interessengruppen hat, als sinnvollerweise in einem einzigen Blogeintrag erwähnt werden können), hat also schon genug Leid verursacht. Es wäre an der Zeit, dass die beiden Mächte im Hintergrund - Saudi-Arabien samt regionalen Verbündeten und internationalen Unterstützern einerseits, der Iran andererseits - endlich anfangen, sich aufeinander zu zu bewegen, mindestens aber in dieser einen Frage das Wohlergehen von Millionen Jemeniten jeder weltanschaulichen oder machtpolitischen Erwägung voranzustellen.

Was geschieht stattdessen? Sie, der vorbestimmte Alleinherrscher Saudi-Arabiens und seit dem 04. November alleiniger Chef des gesamten Sicherheitsapparats (Wissen Sie noch? Da haben Sie einen ganzen Haufen einflussreicher Prinzen und Minister wegen Korruptionsvorwürfen festnehmen lassen, Sie beschließen, die Bevölkerung des Jemen für eine von "ihrem" Territorium abgefeuerte (und vom saudischen Militär abgefangene) Raketeordentlich büßen zu lassen - indem Sie den gesamten Warenverkehr über die jemenitischen Grenzen blockieren.

Wen treffen Sie mit dieser Maßnahme? Den Iran, dem Sie die Schuld für den Raketenangriff geben? Wohl kaum. Das Leiden im Jemen ist der iranischen Führung wohl ebenso gleichgültig, wie Ihnen. Den Huthi-Rebellen, die der Iran unterstützt und gegen die Sie im Jemen - neben einem unüberschaubaren Wust regionaler und international tätiger Milizen - kämpfen? Vielleicht auch, aber wer eine Region unter Kontrolle hat, wird wohl eher als letzter verhungern. Nein, in erster Linie treffen Sie die Zivilbevölkerung. Dringend benötigte humanitäre Hilfen kommen nicht im Jemen an. Medikamente, die für die Bekämfunge der Cholera-Epidemie gebraucht werden, an der bereits 900.000 erkrankt sind, werden an den Grenzen nicht durchgelassen. Marc Lowcock, UNO-Nothilfekoordinator, fürchtet, die Blockade könne die schlimmste Hungersnot zur Folge haben, die die Welt in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Schlimmer als in Somalia, schlimmer als im Südsudan - Lowcock prognostiziert Millionen Tote.

Das Fazit, das auch Sie hätten ziehen können, noch bevor Sie die Schließung der jemenitischen Grenzen überhaupt veranlasst haben: Die Blockade trifft die Falschen. Sie wird nichts dazu beitragen, den Konflikt im Jemen zu lösen, weder in Ihrem Sinne, noch in Form von irgendeinem Kompromiss. Mein Vorschlag: Heben Sie die Blockade wieder auf und suchen Sie Wege, den Krieg im Jemen so schnell und schonend wie möglich zu beenden.
Gerade kommt mir eine Idee. Sie geben sich doch gerne als Reformer, um im Westen besser anzukommen (z.B. Ihre - grundsätzlich sehr gute - Entscheidung, Frauen das Autofahren zu erlauben oder Ihre Anküdigung im Oktober, die ultrakonservativen Religionsprinzipien in Ihrem Land aufzuweichen). Warum geben Sie dieser Selbstdarstellung nicht ein bisschen Substanz und reformieren das Verhältnis zum Iran? Damit Sunniten und Schiiten miteinander klarkommen braucht es vor allem Leute, die ihnen klarmachen, dass sie miteinander klarkommen dürfen. Das wäre doch eine lohnende Aufgabe. Als erstes Versöhnungsprojekt würde sich zum Beispiel die gemeinsame Bewältigung der Krise im Jemen anbieten. Sie glauben gar nicht, wie viel zwei mächtige Staaten erreichen können, wenn sie nicht gegen- sondern miteinander arbeiten. Und wissen Sie, wie gut das bei Ihren internationalen Partnern ankommen würde?

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

Spiegel online: Saudi-Arabien und Iran nehmen ein Volk in Geiselhaft
taz.de: Kurz vor der Katastrophe

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Freitag, 3. November 2017

Sehr geehrter Herr Weil,

jetzt ist es also doch so weit gekommen - Sie und Ihr knapp gescheiterter Herausforderer Bernd Althusmann führen Koalitionsverhandlungen. Liest man den Anfang Ihres Wahlprogramms, so könnte man meinen, eine Große Koalition wäre in Niedersachsen ein Ding der Unmöglichkeit. Dort ist zu lesen, die SPD habe in der vergangenen Legislaturperiode einen "Schlussstrich unter die dunklen Jahre der CDU-FDP-Regierung gezogen". Auch im Wahlkampf wies so gut wie nichts darauf hin, dass Rot-Schwarz nach der Wahl eine ernsthafte Option sein könnte. In Ihrem TV-Duell mit Althusmann waren Sie beide sehr darauf bedacht, sich Ihrer gegenseitigen Geringschätzung zu versichern.

Ich gebe zu, Sie befinden sich in keiner leichten Situation. Die einzige andere Koalitionsoption - eine Ampelkoalition mit FDP und Grünen - wurde von der FDP ausgeschlossen. Auf der anderen Seite kann auch die CDU nicht mit den beiden kleineren Parteien in einer Jamaika-Koalition regieren. Hier sperren sich die Grünen. Das einzige realistische Bündnis bleibt also die GroKo, die irgendwie schäbig daherkommt, wenn man den ganzen Wahlkampf lang betont hat, wie unfähig der spätere Koalitionspartner ist und wie unmöglich, ihm Regierungsverantwortung zu geben. Konnte ja vorher keiner ahnen, dass man sich mit dem Hauptkonkurrenten nochmal auf ein gemeinsames Regierungsprogramm einigen muss, oder? Oder?

Doch, zumindest damit rechnen hätten Sie müssen, Sie und Herr Althusmann. Rot-Grün und Schwarz-Gelb hatten schon vor der Wahl keine Mehrheit in den Umfragen. FDP und Grüne aber liegen inhaltlich so weit auseinander, dass in der Öffentlichkeit schon lange Zweifel herrschten, ob die beiden Parteien in der Lage wären, sich auf einen Koalitionsvertrag zu einigen. Vor diesem Hintergrund kann es kaum verwundern, dass beide Kleinparteien darauf bestanden, eine Dreierkoalition nur mit der "großen" Partei einzugehen, die ihren jeweiligen Inhalten mehr Gewicht verschaffen würde.

Herr Althusmann und Sie, Herr Weil, hätten also ahnen können, dass Sie nach der Wahl vor der Entscheidung stehen könnten, mit dem Widersacher zu koalieren oder Neuwahlen zu riskieren. Die Frage ist also: Können Sie mit einem Menschen (und der von ihm geführten Partei) regieren, dem Sie noch im TV-Duell am 10. Oktober bescheinigten, "nicht zu überblicken", worüber er redet und der Ihnen bei gleicher Gelegenheit vorwarf, "der Realität entrückt" zu sein? Wie können Sie beide einander Regierungsverantwortung zubilligen, wenn Sie sich gegenseitig für so unfähig halten?

Oder war das alles am Ende - welch infame Unterstellung - nur Show, und Sie und Herr Althusmann kommen eigentlich ganz gut miteinander klar? Mit anderen Worten: Wie ehrlich sind Sie als Politiker denen gegenüber, die Sie wählen sollen? Wie echt ist die Empörung, mit der Sie die Politik der CDU verdammten - die Politik also, die Sie in einer Koalition zumindest teilweise werden mittragen müssen? Eine unkomplizierte Einigung mit der CDU wäre entlarvend. Sie hieße entweder, dass Sie Ihre Ziele zu großen Teilen über Bord geworfen haben, um eine Regierung mit einem aus Ihrer Sicht schlechten Partner auf die Beine zu stellen - oder aber, dass das Über-Bord-Werfen schon im Wahlkampf stattgefunden hat, als Sie und Herr Althusmann sich auf einen oberflächlich konfrontativen Wahlkampfstil einließen, der verdecken sollte, wie gut Ihre inhaltlichen Positionen eigentlich zusammenpassen. Was wäre schlimmer?

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

NDR.de: Große Koalition - SPD und CDU stimmen dafür
NDR.de: Harter Schlagabtausch zwischen Weil und Althusmann
stuttgarter-nachrichten.de: Kein klarer Sieger bei TV-Duell zur Niedersachsen-Wahl

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https://www.stephanweil.de/fotoalbum/weilhameln0128/

Freitag, 20. Oktober 2017

Sehr geehrter Herr Tillich,

im Grunde könnte ich mir diesen Brief auch schenken und Sie einfach auf mein Schreiben vom 29. September an Herrn Söder verweisen. Einen wesentlichen Aspekt Ihrer Analyse des Ergebnisses der Bundestagswahl teilen Sie nämlich mit Herrn Söder, und diesen Aspekt halte ich für falsch (dazu gleich mehr). Da in besagtem Brief allerdings auch viel zur spezifisch bayrischen Situation steht und die sächsische dann doch eine andere ist, schreibe ich meine grundsätzliche Kritik auch für Sie noch einmal auf.

Aber zunächst kurz zum Hintergrund. Nachdem bei der Bundestagswahl Ihre erfolgsverwöhnte sächsische CDU nur als zweitstärkste Kraft hinter der AfD gelandet ist, haben Sie für sich die nicht grundsätzlich falsche Entscheidung getroffen, im Dezember von Ihrem Posten als Ministerpräsident (und von Ihren Parteiämtern) zurückzutreten. Als Nachfolger haben Sie Michael Kretschmer vorgeschlagen und wie es aussieht wird Ihre Partei diesem Vorschlag folgen und Herr Kretschmer wird die Amtsgeschäfte bis zum Ende der Legislaturperiode versehen.

An dieser Personalie zeigt sich meines Erachtens ein grobes Missverständnis. Ein Missverständnis, das in den Unionsparteien gerade modern zu sein scheint. Das Missverständnis lautet: "Das schlechte Wahlergebnis der CDU/CSU ist auf Angela Merkels lasche Flüchtlingspolitik zurückzuführen, also kommen die Wähler zurück, wenn wir härtere Flüchtlingspolitik machen."
Die erste Hälfte des Satzes könnte zumindest noch teilweise stimmen. Es wirkt zumindest erst einmal logisch, die Wählerwanderung zur AfD mit ihren großen Themen zu erklären. Schon hier könnte man allerdings die Frage stellen, ob nicht - wie zum Beispiel auch im Falle Trump in den USA - die Anti-Establishment-Rethorik der AfD wirkungsvoller war. Schließlich hat ein ausgesprochen großer Teil der AfD-Wähler angegeben, seine Wahlentscheidung aus Enttäuschung über die anderen Parteien getroffen zu haben und nicht aus Überzeugung vom AfD-Wahlprogramm. Hier herrscht also allgemein das Gefühl, von den Parteien und ihren Politikern nicht mehr gut vertreten zu werden. Dieses Gefühl einfach mit der Angst vor Flüchtlingen zu übersetzen ist ein bisschen billig. Wichtiger wäre, Strukturen zu schaffen, die den Menschen wieder das Gefühl geben, Einfluss auf die Politik zu haben - und diesen Einfluss dann auch ausreichend zu kommunizieren.

Teil zwei des obigen Satzes unterliegt dem Fehlschluss, die Meinung der Wähler beruhe einzig und allein auf den aktuellen Maßnahmen der Politik und ließe sich durch Anpassung dieser Maßahmen wieder "zurückdrehen". Wie ich schon Herrn Söder schrieb: Die Positionen der AfD wird immer die AfD am glaubwürdigsten vertreten. Es bringt nichts, sie nachzuahmen. Damit werden diese Positionen nur von einer weiteren Stelle legitimiert. Auf der anderen Seite verliert Ihre Partei möglicherweise noch Wähler, weil sich die "politische Mitte" (wo immer die liegen mag) von einer nach rechts rückenden CDU nicht mehr repräsentiert fühlt.

Herr Kretschmer ("Ich stehe mit beiden Beinen fest in der Mitte unseres politischen Systems") schwafelt schon jetzt wieder von "Deutschen Werten" (natürlich, ohne diese näher zu definieren) und fordert eine härtere Einwanderungspolitik. Die Verantwortung für das schlechte Bundestagswahlergebnis in Sachsen sieht auch er bei der Bundespartei und deren "Fehlern" von 2015. Das hat eine gewisse Logik, schließlich braucht auch er einen Schuldigen für sein ganz persönliches Wahldebakel: Sein Direktmandat verlor er gegen einen weitgehend unbekannten AfD-Kandidaten. Wenn er so regiert, wie er es angekündigt hat, dürfte die nächst Niederlage 2019 auf Landesebene folgen.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

Zeit.de: Tillich-Nachfolger will "Deutsche Werte" festschreiben
Welt.de: Ein Verlierer geht, ein Verlierer kommt

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Freitag, 13. Oktober 2017

Sehr geehrter Herr Kurz,

ein bisschen musste ich ja schon grinsen, als ich vor ein paar Monaten von Ihrer "Liste Kurz" gelesen
habe. Ich hätte gern Überschriften gelesen wie: "Liste Kurz - Konservative stellen weniger Kandidaten auf, als erwartet" oder etwas in der Art, muss aber zugeben, dass ich den österreichischen Wahlkampf damals nur am Rande mitverfolgt habe.

Dass dieser mit harten Bandagen geführt wurde, habe ich allerdings mitbekommen. Auch, dass gerade gegen Ende des Wahlkampfs die Bandagen gerne mal gegen den Schlagring ausgetauscht wurden - und das nicht nur bei den Dirty-Campaigning-Sozen, sondern auch bei Ihnen und Ihrem Spitzelverein.

Nun würde ich Sie gerne darauf aufmerksam machen, dass Sie und Herr Kern mit Ihren jeweiligen Parteien durch diese Maßnahmen ebenso wie durch die hin- und herfliegenden Beschuldigungen den Eindruck einer Kindergartengruppe erwecken, die über die Frage aneinandergeraten ist, wer als nächster aufs Trampolin darf, während sich daneben mit Herrn Strache ein ausgewiesener Rechtspopulist als "vernünftige Alternative" darstellen kann. Ich würde Sie darauf aufmerksam machen - allein, es wäre vergebens. Sie haben Ihre politische Linie so sehr der von Straches FPÖ angeglichen, dass es praktisch keinen Sinn mehr macht, Sie zu wählen, um ihn zu verhindern. Herr Kurz, wenn man Sie an Ihren Positionen misst, sind Sie nichts anderes als ein Abziehbild ihres politischen Gegners (na gut: des einen Ihrer politischen Gegner. Herr Kern ist ja noch nicht ganz weg vom Fenster).

Das allerdings bringt uns zur Frage: Warum kandidieren Sie überhaupt? Könnten Sie nicht einfach Herrn Straches Kandidatur unterstützen und sich freuen, wenn er dann Ihre gemeinsame Agenda umsetzt?
Könnten Sie, machen Sie aber nicht, denn was Sie eigentlich wollen ist nicht, dass Minderheiten unterdrückt und Flüchtlinge abgewiesen werden. Das ist Ihnen wohl mehr oder weniger egal. Was Sie wirklich wollen ist, so glaube ich, ganz einfach: Kanzler sein. Nichts weiter. Dass das als alleinige Begründung Ihres Anspruchs auf die Position des Regierungschefs nicht ausreicht, brauche ich Ihnen wohl nicht zu schreiben. Das haben Andere mit Sicherheit schon des Öfteren getan und Sie werden inzwischen wohl eine gewisse Routine darin haben, es zu überlesen.

Mein Rat ist deshalb genauso kurz und simpel wie Ihre Ziele für diesen Wahlkampf. Er lautet: Lassen Sie's einfach. Werden Sie nicht Kanzler. Zumindest nicht, wenn Sie sich dazu ausgerechnet zum zweiten Strache machen müssen. Noch besser wäre es allerdings, wenn Sie Ihre Intelligenz und Ihre Erfahrung als Politiker dazu nutzen würden, den menschenfeindlichen Ansichten der FPÖ zu widersprechen, ihre Argumente zu entkräften und auch konservativ eingestellten Österreichern zu zeigen, dass Konservatismus nicht zwingend menschenverachtend sein muss. Wenn Ihnen das nicht gelingt, wäre es an der Zeit, zu überlegen, ob Sie in der richtigen Partei sind.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

Süddeutsche.de: Österreichs Wahlkampf, plötzlich würdevoll

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Freitag, 29. September 2017

Sehr geehrter Herr Söder,

eigentlich müssten Sie sich mit Ihrem Parteichef Horst Seehofer wahnsinnig gut verstehen. Zumindest Ihre Äußerungen zur Asyl- und Flüchtlingspolitik sprechen dafür, dass Sie Seehofers harte Forderungen unterstützen müssten, ja, eher noch leicht darüber hinausgehen. Außerdem sieht Seehofer die Ursache für die starken Verluste der CSU in der Bundestagswahl ja nicht etwa darin, dass Ihre Christsozialen mit ihren rechtspopulistischen Äußerungen der AfD nach dem Munde geredet und sie somit gestärkt haben, sondern glaubt, AfD-Wähler wieder zurückholen zu können, indem er sich noch stärker dem Kurs der Gaulands und Höckes anpasst, ihnen nacheifert. Das ist zwar Schwachsinn, denn im Bereich Rechtspopulismus wirkt natürlich die Partei glaubhafter, die schon immer solche Töne angeschlagen hat und nicht die, die einer sich wandelnden Wählermeinung (oder zumindest einem sich wandelnden Wählerverhalten) hinterherläuft. Nichtsdestotrotz kommt Seehofer Ihnen und Ihren in der Vergangenheit geäußerten Positionen damit eigentlich sehr entgegen. Warum also verstehen Sie beide sich so schlecht?

Darf ich eine Vermutung äußern? Also gut:
Weil es eben eigentlich nicht um die Positionen geht.
Dass Sie in der Parteien- und Politikerlandschaft relativ weit rechts stehen, will ich Ihnen gar nicht absprechen. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass diese Positionierung eher variabel ist und sich daran orientiert, wo Sie aktuell das größte Machtpotential sehen. Sonst gäbe es für Sie aus meiner Sicht kaum einen Grund, sich mit Seehofer zu zoffen. Inhaltlich sind Sie gar nicht so weit auseinander.

Natürlich, schon seit Längerem wird darüber geredet, dass Sie gerne Seehofers Position in der Partei einnehmen würden. Das heißt, Sie wären gerne Parteichef und Spitzenkandidat für die Landtagswahl - was bedeuten würde, dass Sie wahrscheinlich Ministerpräsident werden würden. Es geht also um machtvolle Positionen. Seehofer ist nach den herben Verlusten in der Bundestagswahl geschwächt - der Parteitag im November könnte die Chance zu seiner Abwahl sein, zumal in den Koalitionsverhandlungen im Bund - so bis dahin denn schon welche stattgefunden haben - eine neue Niederlage droht. Seehofers harte Koalitionsvoraussetzung einer Obergrenze für die Zahl der jährlich aufzunehmenden Flüchtlinge ist mit keiner der anderen verhandelnden Parteien durchsetzbar, nicht einmal mit der Merkel-geführten CDU. Die Gelegenheit, Seehofer zu beerben, wäre also einmalig günstig - wäre da nicht die Gefahr, sich schon in wenigen Monaten selbst in ähnlicher Lage wiederzufinden.
Bayern wählt 2018 einen neuen Landtag und die CSU hätte gerne wieder die absolute Mehrheit. Ein Zweitstimmenanteil von 38,8 % wie in der Bundestagswahl würde da wohl eher nicht reichen. Ein frisch gebackener CSU-Chef Söder hätte nach einem solchen ersten Wahlergebnis einen schweren Stand. Wäre es nicht besser, wenn dieses zu erwartende Debakel noch auf die Kappe des (dann bald Ex-)Chefs Seehofer ginge? Der wäre danach kaum noch zu retten und Sie hätten als neuer Parteichef massig Zeit, sich auf die nächste Wahl vorzubereiten.

Etwas Ähnliches werden Sie sich wohl gedacht haben, als Sie sich am Mittwoch "gegen Personaldebatten" aussprachen, obgleich einige Kollegen sich zu Ihren Gunsten und gegen Seehofer geäußert hatten. Sie brauchen Ihren parteiinternen Widersacher noch, um eine Wahl zu verlieren, ohne dass Sie Schaden nehmen.

Genaugenommen könnten Sie sich das aber auch schenken. Wissen Sie, warum? Weil Sie beide falsch liegen, Sie und Seehofer. Wie ich schon ganz am Anfang dieses Briefes andeutete: Die AfD-Wähler kriegen Sie nicht zurück, egal, wie weit Sie nach rechts rücken. Eher verschrecken Sie noch ein paar Wähler aus der politischen Mitte und sorgen so dafür, dass Ihre Partei noch schlechter abschneidet, als letzten Sonntag. Das wird 2018 passieren - und wenn Sie den Kurs nicht ändern passiert es 2023 wieder. Sie verschieben Ihre persönliche Niederlage nur um fünf Jahre, wenn Sie Seehofer die Wahl 2018 ausbaden lassen.

Nur um das klarzustellen: Ich persönlich habe keinen Favoriten. Die Politik eines Markus Söder wird sich nicht wesentlich von der eines Horst Seehofer unterscheiden. Was Bayern bräuchte, wäre eine andere Partei an der Spitze. Und wer weiß? Vielleicht schaffen Sie das ja früher oder später. Wo könnte beispielsweise die SPD besser wiederauferstehen, als in einem Land, in dem die konservative Fraktion die politische Mitte räumt?

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

NordBayern: Gezerre um CSU-Spitze - Das Risiko für Söder ist enorm
Merkur.de: Nach Rücktrittsforderungen - So stellt Seehofer seine Kritiker ruhig

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Freitag, 22. September 2017

Sehr geehrte Wahlberechtigte,

ich wende mich heute nicht n irgendeinen Politiker oder Wirtschaftsboss, sondern an euch alle. Der Grund ist denkbar einfach: Am Sonntag ist Bundestagswahl und diese Wahl ist wirklich wichtig. Nicht nur so wichtig, wie eben jede Wahl ist, die über Wohl und Wehe dieses Landes entscheidet, indem sie die Menschen bestimmt, die seine Geschicke für die nächsten vier Jahre lenken. Das erste mal in der Geschichte der Bundesrepublik wird eine Partei in den Bundestag einziehen, die nicht nur offen rechtsradikale Positionen vertritt, sondern auch noch Holocaustleugner und -verharmloser in ihren Reihen und an ihrer Spitze duldet und in ihrem Handeln bestätigt. Nein, an der 5-Prozent-Hürde wird die AfD nicht scheitern, dass ist leider schon klar. Keine noch so hohe Wahlbeteiligung der AfD-Gegner wird das Verhältnis in so gewaltigem Maße verschieben, dass das noch möglich wäre. Warum ist es aber dann so wichtig, wählen zu gehen?

Ganz einfach: Es geht um die Macht, die die AfD im Bundestag bekommt. Wird sie drittstärkste Kraft - nach aktuellen Umfragen könnte das durchaus passieren - dann könnte sie im Falle einer neuerlichen Großen Koalition Oppositionsführerin sein. Jede Stimme, die die Rechtspopulisten bekommen, könnte die sein, die ihnen einen weiteren Sitz verschafft. Jede Stimme gegen sie verschiebt das Verhältnis zu ihren Ungunsten, sorgt damit dafür, dass sie weniger Prozente und damit auch weniger Sitze im Bundestag erhalten. So weit, so einfach.

Leider wird es doch noch etwas komplizierter. Die Sitzverteilung im Bundestag wird nicht nach den prozentualen Anteilen an den abgegebenen Stimmen berechnet, sondern nach den Anteilen an allen Stimmen, die eine der im neugewählten Bundestag vertretenen Parteien bekommen hat. Die Stimmen, die an Parteien gehen, die es aufgrund der 5-Prozent-Hürde nicht in den Bundestag geschafft haben, spielen hier keine Rolle mehr. Als es noch darum ging, rechtsradikale Parteien auf unter 5% zu drücken, war das egal, da für diese Berechnung noch der Anteil an allen Stimmen ausschlaggebend war. Man konnte also beruhigt eine Kleinstpartei wählen, wenn man mit den großen Parteien nicht zufrieden war, die Rechten aber nicht im Parlament haben wollte.
Dieses mal geht es aber wie gesagt nicht darum, die AfD draußen zu halten. Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu schaffen. Um aber die Sitzverteilung so zu beeinflussen, dass die AfD möglichst wenige bekommt, müssen wir die Parteien stärken, die es höchstwahrscheinlich in den Bundestag schaffen. Nur dadurch halten wir die AfD klein.

Es ist nicht ganz einfach, sich damit abzufinden und es fällt mir auch nicht leicht, das zu fordern. Eine kleine, idealistische Partei zu unterstützen, die für ihr Thema brennt und dann vielleicht in der Lage ist, in der Politik neue Impulse zu setzen und die Agenda der "großen" Parteien um ein wichtiges Thema zu bereichern, ist sehr ehrenwert. Wer allerdings in dieser Wahl die AfD wirksam bekämpfen will, muss nicht nur wählen gehen. Er/Sie muss auch darauf verzichten, die kleine Partei zu wählen, deren Wahlprogramm ihm/ihr voll aus der Seele spricht und sein/ihr Kreuz bei der größeren Partei machen, die ihm/ihr noch am ehesten wählbar erscheint. SPD, CDU, FDP, Linke und Grüne. Das sind die fünf Parteien, die mit ziemlicher Sicherheit bald mit der AfD zusammen im Bundestag sitzen werden. Je stärker diese Parteien zusammengenommen aus dieser Wahl hervorgehen, desto schwächer ist die AfD.

Jeder vergibt seine Stimme letztendlich selbst und jeder muss für sich entscheiden, wer sie bekommt. Dieser Brief soll keine moralische Verpflichtung sein, eine der oben genannten Parteien zu wählen. Keiner muss sich schuldig fühlen, wenn er sich für eine andere Partei entscheidet. Ich bitte euch nur: Überlegt es euch genau. Denkt darüber nach und trefft eine Entscheidung, die ihr mit allen absehbaren Folgen zu vertreten bereit seid.
Und geht wählen. Vor allem das.

Mit freundlichen Grüßen

HG

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Samstag, 16. September 2017

Sehr geehrter Herr Wiegand,

seit den Krawallen in Hamburg beim G20-Gipfel im Juli haben es linke Kulturzentren in Deutschland nicht leicht. Die Anschuldigungen gegen die Rote Flora im hamburger Schanzenviertel wurden von wahlkämpfenden Konservativen flugs auf alles bezogen, was sich links nennt. Besonders die Hausbesetzerszene ist stark unter Druck geraten - den Verantwortlichen und Besuchern von Kulturzentren in besetzten Häusern wird inzwischen gerne pauschal Gewaltbereitschaft, von einigen Scharfmachern sogar Linksterrorrismus unterstellt - für gewöhnlich, ohne konkrete Beispiele für Gewalt der Besetzer zu nennen.

So gesehen sind die Vergehen, die dem Hausprojekt in der Hafenstraße sieben ("Hasi") in Halle (Saale) vorgeworfen werden, eher als harmlos zu bezeichnen. Hauptsächlich ist von Ruhestörung die Rede. Außerdem wurden am Tag einer geplanten Nazi-Demo ein paar Vermummte beim Betreten des Gebäudes gesehen (laut Hasi Gegendemonstranten, die auf der Flucht vor gewaltbereiten Nazis waren) und einmal wurde auf dem Dach Pyrotechnik abgebrannt (Hasi: nicht abgesprochen, Zugang zum Dach inzwischen verschlossen). Während CDU-Stadträte von Beschwerdebriefen der Anwohner erzählen, äußern sich andere Anwohner der Mitteldeutschen Zeitung gegenüber sehr positiv und finden die Hausbesetzer äußerst rücksichtsvoll. Auch per Brief hat der Aufsichtsrat der städtischen HWG, in deren Besitz sich das Gebäude befindet, positive Darstellungen des nachbarschaftlichen Verhältnisses zur Hasi erhalten.

Herr Oberbürgermeister Wiegand, als Sie von den Beschwerdebriefen hörten, haben Sie die Kritiker der Hasi eingeladen, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Das ist richtig. Die Sorgen der Menschen müssen gehört werden und es muss nach Möglichkeiten gesucht werden, ihnen gerecht zu werden. In diesen Prozess muss aber auch die andere Seite einbezogen werden - also die Betreiber der Hasi und die Befürworter dieses Projekts.
Seit etwa anderthalb Jahren ist das Haus besetzt und fast ebensolange gibt es einen Nutzungsvertrag mit der HWG, der zunächst bis zum 30.09.2017 befristet war. Die Betreiber versichern, sich immer an die Auflagen gehalten zu haben und ihnen wurden gleich zu Beginn "wohlwollende Gespräche" über die Zukunft des Projekts versprochen. Diese Gespräche haben bis heute nicht stattgefunden, der Nutzungsvertrag aber läuft bald aus.

Der Betreiberverein "Capuze e.V." war in den anderthalb Hasi-Jahren nicht untätig. Zahlreiche kulturelle Angebote wurden geschaffen, so zum Beispiel ein Lesecafé, eine offene Werkstatt, ein Theater und vieles mehr. Neben Konzerten werden auch Diskussionsabende zu politischen Themen angeboten. Das schönste aber: Jede und jeder ist eingeladen. Auch Sie könnten sich da ohne Weiteres sehen lassen. Noch wichtiger: Die Angebote dort erreichen eine ganze Menge Leute, die sich vom städtischen Kulturangebot nicht angesprochen fühlen. Die Stadt Halle braucht Orte wie die Hasi, wenn sie der Vielfalt ihrer Bewohner gerecht werden will.

An dieser Stelle stehen Sie doppelt in der Verantwortung. Sie sich nicht nur Oberbürgermeister sondern - qua Amt - auch Aufsichtsratsvorsitzender der HWG. Als Oberbürgermeister liegt es eigentlich in Ihrem Interesse, dass das Angebot der Hasi nicht verschwindet, da es, wie eben dargelegt, für Teile der Bevölkerung einen wichtigen Bezugspunkt bildet. Als HWG-Vorstandsvorsitzender hätten Sie die Möglichkeit, auf ein Weiterbestehen des Projekts hinzuwirken. Werden Sie damit aber auch den Interessen der HWG gerecht?
Nun, zunächst einmal handelt es sich bei der Hasi nicht um ein schickes Mehrfamilienhaus, das sich ohne Weiteres für gutes Geld vermieten ließe. Der Capuze e.V. zahlt zwar keine Miete, aber immerhin die Nebenkosten, und trägt außerdem zur Instandhaltung des Gebäudes bei, das sonst sicherlich bald verfallen würde. Die HWG hat also zumindest keinen Nachteil von dem bestehenden Arrangement. Weiterhin ließe sich anführen, dass die HWG in der Selbstdarstellung auf ihrer Website explizit darauf hinweist, soziale und kulturelle Akteure zu fordern und die Hallenser Gesellschaft und Kulturszene auf diese Weise zu bereichern. Diesem Anspruch wird nur gerecht, wer Kultur als ein breites Spektrum begreift und gerade auch Angebote fördert, die das Potential haben, Menschen anzusprechen, die anzusprechen anderen Angeboten nicht gelingt.

Herr Wiegand, setzen Sie sich für eine Verständigung zwischen Anwohnern, Hasi und HWG ein, damit ein Weg gefunden werden kann, dieses Projekt weiterzuführen, ohne dass es bei diesem Prozess Verlierer geben muss. Sorgen Sie dafür, dass der Capuze e.V. seine Arbeit in der Hasi fortsetzen kann.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

taz.de: Häuserkampf in Halle
mz-web.de: Hasi bündelt die Kräfte

Bildquelle:

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Freitag, 8. September 2017

Sehr geehrte Herren Müller, Zetsche und Krüger,

Matthias Müller, Vorstandsvorsitzender Volkswagen AG
Sie sind die Vorstandsvorsitzenden der drei größten Autokonzerne Deutschlands. VW, Daimler und BMW mit allen zugehörigen Marken sind weder von unseren Straßen noch aus unserer Wirtschaft wegzudenken. Allerdings auch nicht aus unserer Klimabilanz.

Momentan sind sogenannte SUVs, straßentauglich zurechtgestutze Geländewagen, der letzte Schrei. Die Dinger finden sich überall auf den Straßen und Ihre Konzerne lassen sich nicht lumpen und werfen immer neue Modelle auf den Markt. Dabei haben diese Autos zwar eine hohe Motorleistung und sehen ganz protzig aus, sind allerdings für die meisten Käufer kaum von größerem Nutzen, als ein normaler PKW, da sie hauptsächlich auf der Straße gefahren werden und im Grunde auch nicht so unglaublich geländegängig sind - da fordert der Komfort seinen Tribut.
Was sich die SUVs allerdings von den "richtigen" Geländewagen abgeguckt haben: Sie fressen jede Menge Sprit und stoßen daher auch jede Menge Abgase aus. Sei es CO2 oder Stickoxid, schädlich ist das Ganze auf jeden Fall. Die starken Motoren, die eigentlich gar nicht benötigt werden (warum MUSS ein Auto über 200 fahren können? Oder die nötige Power fürs Gelände aufbringen, wenn es nur auf Asphalt gefahren wird?) machen SUVs zu Klima- und Lungenkillern.

Dieter Zetsche, Vorstandsvorsitzender Daimler AG
Offenbar verkaufen sich die schwer motorisierten Schwanzattrappen gerade besonders gut, also werden sie angeboten. Die Verantwortung tragen also die Verbraucher, die einfach keine sauberen Autos kaufen wollen. Oder? Nun ja, alle Schuld können Sie nicht auf die Nachfrage schieben, denn die wird befeuert durch Autowerbung, die stets das Fahrgefühl durch Geschwindigkeit oder Leistung in den Fokus nimmt, andere Faktoren aber ausblendet. Die Behauptung: Ein starker Motor macht einfach Spaß. Stattdessen könnte man genausogut mit Umweltverträglichkeit oder dem geräuscharmen Betrieb von Elektroautos werben. Auch das ist Lebensgefühl.
Auch gibt es eine wechselseitige Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage: Eine größere Auswahl an abgasarmen Fahrzeugen würde diese auch für Ihre Kunden attraktiver machen.

Der Ökologische Verkehrsclub VCD hat gerade seine jährliche Auto-Umweltliste herausgegeben. Die wurde wegen des Dieselskandals dieses Jahr auf eine andere Art erstellt als sonst: Emissionen und Verbrauch im normalen Fahrbetrieb wurden abgefragt und mit Daten aus unabhängigen Quellen abgeglichen. Das Ergebnis ist ein Liste (ohne Ranking) von Fahrzeugen, die der VCD aufgrund ihrer relativen Umweltverträglichkeit empfiehlt. Darauf sind Elektroautos und Hybride, aber auch erdgasbetriebene Wagen und kleine, sparsame Benziner.

Harald Krüger, Vorstandsvorsitzender BMW AG
Meine Herren, solche Autos wollen wir sehen! Und Sie sind diejenigen, die sie bauen müssen. Die deutsche Autoindustrie, die sich immer so viel darauf einbildet, an der Weltspitze mitzuspielen, hat hier noch Aufholbedarf. Fahrzeuge mit geringem Verbrauch und solche mit alternativen Antriebsmethoden sind weltweit im Aufschwung - schon allein dadurch, dass verschiedene Länder bereits angekündigt haben, bald nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zulassen zu wollen oder zumindest verpflichtende E-Auto-Quoten einzuführen. Die deutsche Autoindustrie geht diesen Schritt bislang nur halbherzig. Auf diese Weise lässt sich auf dem Weltmarkt aber nicht mehr lange mithalten.

Verstehen Sie die Liste des VCD deshalb als gut gemeinten Rat: Das ist die Richtung, in die sich die Autoindustrie entwickelt. Diese Konzepte haben Zukunft. Wenig Verbrauch, geringerer Schadstoffausstoß, irgendwann das emissionsfreie Fahren. Sich frühzeitig in diese Richtung zu orientieren ist nicht mehr möglich, denn frühzeitig ist bereits vorbei. Jetzt auf der Stelle die Bemühungen zu verdoppeln kann nicht nur das Klima retten. Vielleicht rettet es auch die deutsche Autoindustrie.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:
VCD: Auto-Umweltliste
Tagesspiegel.de: Diese Autos sind sauber

Bildquellen:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f2/Matthias_M%C3%BCller_2015-03-12_002.jpg
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9a/Dieter_Zetsche_3.JPG
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/39/HaraldKr%C3%BCger-BMW-IAA2015.jpg

Donnerstag, 31. August 2017

Sehr geehrter Herr de Maizière,

über den G-20-Gipfel in Hamburg ist nun eigentlich genug geschrieben worden. Alle Beteiligten wurden großzügigst mit Kritik (gerechtfertigter wie ungerechtfertigter) bedacht und das ganze Thema so gründlich durchgekaut, dass es inzwischen für mehr Augenrollen als echte Empörung sorgt.
Auch die Affäre um die mittendrin entzogenen Akkreditierungen einiger Pressevertreter schien erfolgreich ausgesessen zu sein.

Schien, denn dann erfrechte sich die ARD tatsächlich, einen Beitrag zu veröffentlichen, in dem einer der betroffenen Journalisten, der jetzt endlich die Gründe für den Entzug seiner Akkreditierung kennt, über besagte Gründe informiert.
Das Bundeskriminalamt habe ihm mitgeteilt, es habe 18 Einträge über ihn gespeichert. Außer einem Verstoß gegen das Versammlungsgesetz von 2003, der dem Journalisten eine Geldstrafe von 320 Euro einbrachte - offensichtlich kein Kapitalverbrechen - beinhaltete kein einziger der Einträge ein Gerichtsurteil. So wurde beispielsweise festgehalten, er habe "eine Sprengstoffexplosion herbeigeführt", weil auf einer Demo, von der er berichtete, ein Böller explodiert war - allerdings gänzlich ohne seine Beteiligung. Es gab also keine Anklage - der Eintrag steht aber auf der Liste.

Das eigentlich fatale: Er steht dort immer noch. Ob nun jemand verurteilt wird oder nicht, ob überhaupt Anklage erhoben wird, ob es auch nur den geringsten Hinweis auf eine Schuld gibt: Die Einträge bleiben bestehen, werden von der Polizei abgespeichert und offenbar zu beliebigen Anlässen wieder hervorgesucht. Kein Mensch weiß, welche Daten über ihn gespeichert werden und wenn bei einem Großereignis wie dem G-20-Gipfel Leuten die Zugangsgenehmigungen für bestimmte Bereiche mit dem unspezifischen Hinweis auf eine besondere Gefährdungslage entzogen werden, kann auch niemand schnell genug überprüfen, ob diese Gefährdungslage tatsächlich besteht, bzw. ob sie speziell bei diesem Menschen besteht. Hier wurde also die Pressefreiheit massiv eingeschränkt und nun stellt sich heraus, dass der Begründung dafür jede Relevanz fehlt.

Die Frage an Sie, Herr Innenminister (denn das BKA ist ja eine Ihrem Ministerium nachgeordnete Behörde), ist erstens, ob es wirklich nötig ist, Daten über unbewiesene oder Widerlegte Gesetz- und Ordnungswidrigkeiten so lange zu speichern? Wenn jeder fehlgeleitete Verdacht der Polizei schon dazu führt, dass die betreffende Person noch Jahrzehnte später als gefährlich eingestuft wird, läuft doch eindeutig etwas falsch. Welchen guten Grund gibt es denn, diese Daten zu speichern?
Zweitens müssen Sie sich fragen, wie die Bundeskriminalbeamten mit diesen Daten überhaupt umgehen. Inwiefern lässt sich aus den oben geschilderten Einträgen herauslesen, dass der betreffende Journalist eine Gefährdung für andere darstellen könnte? Oder haben die Beamten die Einträge gar nicht gelesen, sondern nur gesehen, dass es überhaupt Einträge zu diesem Menschen gibt, und ihn deshalb auf die schwarze Liste gesetzt? Auch das wäre ein Skandal, denn wie leicht ein Unschuldiger, ja selbst ein komplett desinteressierter und apolitischer Mensch zu eigenem Speicherplatz in den Systemen des BKA kommen kann, haben wir ja gesehen.

Herr de Maizière, hier sind Sie gefragt. Sie als Bundesinnenminister sind verpflichtet, solchen Missständen in einer Ihrer Behörden nachzugehen und sie zu beseitigen. In diesem Fall heißt das: Beenden Sie das stupide sammeln polizeilich irrelevanter Daten durch die Sicherheitsbehörden dieses Landes und sorgen Sie dafür, dass mit den Daten, die dennoch erhoben werden müssen, verantwortungsvoll umgegangen wird.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:
FAZ.net: SCharfe Kritik an "Schwarzer Liste"
Spiegel online: G-20-Affäre offenbart Datenchaos beim BKA

 Bildquelle:
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Biographien/Bilder/sts_steffen_seibert.jpg?__blob=poster&v=3

Mittwoch, 23. August 2017

Sehr geehrter Herr Maas,

zunächst einmal: Bravo. Ihr Vorschlag, die Zusammenarbeit der Polizei der EU-Länder mit der türkischen Polizei zu überprüfen, ist vollkommen richtig und wichtig. Vor allem muss sichergestellt werden, dass die politische Verfolgung von Kritikern der Regierung Erdoğan nicht in der EU und schon gar nicht mit Hilfe unserer Polizei erfolgen kann. Gerade der Fall Akhanli zeigt deutlich, dass hier noch nicht überall der Situation in der Türkei Rechnung getragen wird. Fahndungsersuchen aus der Türkei müssen einer besonderen Prüfung unterzogen werden, solange Erdoğan politische Gegner mit willkürlichen Begründungen wegsperrt.

Doch genug des Lobes, kommen wir zur Kritik. Ihr Vorschlag - so richtig er auch ist - hätte schon viel früher kommen müssen. Der autokratische Führungsstil Erdoğans ist nicht erst seit gestern bekannt und seine Vorliebe, jedes kritische Element so schnell wie möglich mit den fadenscheinigsten Begründungen hinter Gitter zu bringen, auch nicht. Ich kann gut verstehen, dass Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei umstritten sind. Schließlich hängen die Jobs und damit das Leben vieler unschuldiger Menschen in der Türkei an den Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Ländern. Will man diese Leute für die Fehler ihres Alleinherrschers strafen?
Mit der Polizeizusammenarbeit verhält es sich jedoch anders. Hier verlieren nicht automatisch massenhaft Menschen ihre Jobs, sondern Erdoğan wird einfach nur eine Möglichkeit genommen, Kritiker im Ausland zu verfolgen.

Weiter müsste man eigentlich überlegen, welche ähnlichen Maßnahmen noch zu ergreifen wären. In welcher Form unterstützen wir die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei (und in anderen Ländern)? Mir fallen da spontan Waffenexporte ein, die so ein Diktator ja gut gebrauchen kann, um die Opposition kleinzuhalten. Sicher, das fällt nicht unbedingt in Ihren Bereich als Justizminister, aber wenn Sie als Mitglied der Bundesregierung schon mal dabei sind, sich über das Thema Gedanken zu machen, können Sie ja gleich ein bisschen weiter denken und den Kollegen mal ein paar Vorschläge machen, oder? Mich würde es freuen.

Mit freundlichen Grüßen

HG


Der Hintergrund:

Welt.de: Maas stellt Polizei-Zusammenarbeit mit der Türkei in Frage
Zeit online: Maas für Überprüfung der Polizei-Zusammenarbeit mit der Türkei


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https://heiko-maas.spd.de/fileadmin/kandidaten/heiko-maas/SPD_maas_heiko_btw17_pressebild.jpg

Donnerstag, 17. August 2017

Sehr geehrter Herr Schröder,

Martin Schulz hat schon Recht, im Grunde ist es Ihre Sache, welchen Job Sie annehmen. Der Satz "Gerd Schröder ist erfahren genug, zu wissen, welche Angebote er annimmt" klingt zwar ein bisschen nach einem einem Zehnjährigen gutmütig zugeonkelten "Du bist doch schon ein großer Junge", stimmt aber doch insofern, als ein Mann, der acht Jahre lang deutscher Bundeskanzler war, genügend Gelegenheiten gehabt haben sollte, herauszufinden, welche Bedeutung den Beziehungen ehemaliger oder aktueller Spitzenpolitiker mit den Belangen autokratischer Regimes beigemessen wird. Ihre Freundschaft mit dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin ist ja schon seit längerer Zeit Gegenstand zahlreicher kritischer Bemerkungen in verschiedenen Medien. Dass Sie diesen Mann, der die Geschicke Russlands aktuell im Grunde allein bestimmt, Oppositionelle aus dem Verkehr ziehen lässt und die Medien kontrolliert, einmal als "lupenreinen Demokraten" bezeichnet haben, spricht ja schon für sich. Wenn Sie nun aber einen Vorstandsposten im russischen Staatskonzern Rosneft annehmen, setzen Sie dem ganzen die Krone auf. Noch vor Kurzem haben Sie sich von SPD-Genossen für Ihre Wahlkampfrede auf dem Parteitag bejubeln lassen. Und wenige Monate später wollen Sie eine Stelle von Putins Gnaden antreten? Wollen Ihre Beziehungen in den Dienst eines lupenreinen Autokraten stellen?

Zu Ihrer Verteidigung haben Sie vorgebracht, der Skandal sei ein einziger Wahlkampfgag der Union, hier solle "offenbar Frau Merkel geholfen werden". Dabei kann man denen ausnahmsweise wirklich keinen Vorwurf machen. Haben Sie wirklich angenommen, dass die CDU/CSU eine derartige Steilvorlage nicht nutzen würden? Wenn da jetzt mitunter etwas überdramatisiert wird: Nicht schön, aber damit ist im Wahlkampf zu rechnen. Die Kritik selbst bleibt aber berechtigt. Nicht, weil wir uns aus lauter USA-Hörigkeit der Russlandkritik verpflichtet fühlten, sondern einfach, weil ein Antidemokrat wie Putin kritisiert gehört. Sie aber unterstützen ihn. Im Grunde sind Sie es, der Merkel hilft, indem er solche Neuigkeiten produziert.

Natürlich kann man auch einwenden, dass Ihre Russlandverbindungen eigentlich nicht den Neuigkeitswert haben, der ihnen gerade zugeschanzt wird. Schließlich arbeiten Sie schon seit dem Ende Ihrer Kanzlerschaft für eine Tochtergesellschaft der russischen Gazprom, die ebenfalls mehrheitlich dem Staat gehört. Der Wechsel zu Rosneft kommt allerdings mitten im Wahlkampf zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt. Ihr Parteigenosse Martin Schulz kann sich schlechte Presse im Moment überhaupt nicht leisten, schließlich sind seine Umfrageergebnisse schlecht genug. Ob seine Versicherung, er selbst werde nach einer Kanzlerschaft keinen Job in der Privatwirtschaft annehmen, jedoch reicht, um Schaden von der Partei abzuhalten? Sie, Herr Schröder, behaupten, Schulz' Wahlkampf zu unterstützen. Mit Aktionen wie dieser torpedieren Sie ihn.

Überlegen Sie also bitte noch einmal, was Ihnen der Wahlkampf Ihrer Partei wert ist. Denken Sie aber auch genau darüber nach, was Ihnen demokratische Grundsätze bedeuten und ob der "lupenreine Demokrat" inzwischen nicht auch aus Ihrer Perspektive ein paar Kratzer hat. Nicht nur die wahlkämpfenden Sozialdemokraten, die sich gerade über Ihr Verhalten die Haare raufen, werden es Ihnen danken.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

Spiegel online: Schröder sieht durch Rosneft-Posten keinen Schaden für SPD
Zeit online: Martin Schulz zu Gerhard Schröder: "Ich würde das nicht tun"

Bildquelle:

http://gerhard-schroeder.de/wp-content/uploads/170625_ISPD_PHT22.jpg

Freitag, 11. August 2017

Sehr geehrter Herr Trump,

"Feuer und Zorn, wie sie die Welt noch nie gesehen hat" haben Sie dem nordkoreanischen Diktator Kim Jong Un im Falle weiterer Drohungen gegen die USA versprochen. In einem improvidierten Statement aus dem Urlaub haben Sie mal eben dem großmäuligsten Alleinherrscher gedroht, der aktuell mit Atombomben protzen kann. Und nicht nur gedroht, wie andere Politiker das machen: Wirtschaftssanktionen, Ordnungsrufe, nein, bei einem Präsidenten Trump gibt es keie halben Sachen. Da wird gleich der nukleare Erstschlag ausgepackt.

Wenn Sie nicht einfach nur komplett verrückt sind und den Atomkrieg wollen, dann kann ich nur annehmen, dass Sie versuchen, Kim mit Ihren Maximaldrohungen abzuschrecken. Es kratzt an Ihrem Ego, dass ein kleines Land irgendwo in Nicht-Trumpistan dem selbsternannten erfolgreichsten EPaZ (Erfolgreichster Präsident aller Zeiten) mit Interkontinentalraketen und nuklearen Sprengköpfen drohen kann, ohne dass irgendwas passiert. Verständlich. Und es ist ja auch wahr, dass all die Ermahnungen und Blockaden bislang reichlich wenig gebracht haben. Der Kim'sche Führerstaat hat einfach weiter an seinen Waffen gewerkelt und dem Rest der Welt mit der Vernichtung gedroht. Es stimmt aber auch, dass die vielen amerikanischen Militärmanöver mit den südkoreanischen Streitkräften genausowenig gebracht haben. Alle Drohgebärden der Vergangenheit waren erfolglos. Kim weiß längst um die Macht der USA - er hat sie einfach so lange ignoriert, bis er mit der Entwicklung der Atombombe auf einmal das Mittel in der Hand hatte, die perfekte Geisel zu nehmen: Alle, die sich in seiner Reichweite befinden. Diese Reichweite wird mit der Entwicklung neuer Raketen immer weiter ausgebaut. Der Zeitpunkt, an dem Nordkorea imstande ist, Atomsprengköpfe per Rakete bis in die USA zu schießen, steht unmittelbar bevor. Spätestens ab diesem Moment ist das Land militärisch schlicht nicht mehr angreifbar. Schon jetzt ist es eigentlich unmöglich - die wenigsten würden bezweifeln, dass Kim im Falle einer drohenden Niederlage sein nukleares Arsenal einfach auf alle Punkte abfeuert, die er erreichen kann. Wer wollte das riskieren?

Ihre Drohung, Herr Trump, ist aus noch einem Grund ausgesprochen dumm. Es handelt sich dabei um eine ganz grundsätzliche Regel beim Einsatz jeglicher Drohgebärde: Es darf nicht der geringste Zweifel herrschen, dass der Drohende fest entschlossen ist, die Drohung auch wahrzumachen. Niemals darf man sich verleiten lassen, aus purem Zorn eine Maximaldrohung auszusprechen, von der keiner glaubt, dass Sie sie auch umsetzen (Sehen Sie sich mal Folge 1 der achten Staffel der britischen Serie Doctor Who an - Sie werden wissen, was ich meine).
Sie arbeiten zwar schon seit längerer Zeit daran, alle Menschen von Ihrer Unberechenbarkeit zu überzeugen, einen nuklearen Erstschlag gegen Nordkorea traut Ihnen aber dann doch keiner zu. Nicht, dass irgendjemand davon ausginge, dass Ihnen das damit verbundene menschliche Leid naheginge - schließlich trifft eine Atombombe nicht nur den unerwünschten Diktator, sondern im Wesentlichen einfach alle, die sich in der Gegend aufhalten und macht außerdem das Leben in weitem Umkreis auf lange Zeit unmöglich. Nein, das würde Sie vielleicht nicht weiter kümmern. Eine Atommacht aber mit nuklearen Waffen anzugreifen heißt immer, sich selbst nuklearen Angriffen auszusetzen. Was immer Sie von den Menschen in Nordkorea und den USA halten, Sie sind sich selbst zu wichtig, um soetwas zu riskieren. Damit bleibt Ihre Drohung leer und Kim droht unbeirrt zurück, legt sogar konkrete Pläne vor, wie die US-Militärbasis auf der Pazifikinsel Guam anzugreifen sei.
Was haben Sie erreicht, Herr Trump? Und wie machen Sie jetzt weiter? Mit ebenso konkreten Plänen für einen Angriff auf Nordkorea? Mobilmachung der Streitkräfte? Auf all das wird Kim mit ähnlichen Maßnahmen reagieren, ebenso wie Sie in der Gewissheit, dass diesen Krieg eigentlich keiner will. Dass es also eigentlich nur um einen transpazifischen Schwanzvergleich zweier Oberbefehlshaber geht, bei dem irgendwann einer klein beigeben wird. Wenn aber nicht? Dann ist er irgendwann da, der Krieg, den keiner gewollt hat. Dann heizen beide Seiten die Situation so lange immer weiter auf, bis irgendeine Provokation dazu führt, dass einem von beiden der Kragen platzt. Wenn das passiert, geht es aber leider nicht nur die beiden Streithähne etwas an. Nicht mal nur die beiden Nationen, die von ihnen regiert werden, was schlimm genug währe. Nein, dann hat die ganze Welt ein Problem, nämlich den ersten von beiden Seiten mit Atomwaffen geführten Krieg. Auch, wenn ihn eigentlich keiner wollte.

Mein Vorschlag an Sie: Treffen Sie sich mit Kim. Reden Sie mit ihm. Oder veranstalten Sie meinetwegen einen Faustkampf. Nur Sie beide. Oder einen richtigen Schwanzvergleich, ist mir vollkommen egal. Nur lassen Sie den Rest der Welt nicht die Zeche für Ihr verletztes Ego zahlen. Denn weder in Rüstungsfragen noch in Sachen Menschenrechte und Demokratie wird sich die Regierung Kim durch Drohungen beeinflussen lassen. Dazu ist schon allein Kims Ego zu groß. Ein bisschen, wie das Ihre.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund

FAZ.net: Trump: Amerikanische Atomwaffen stärker als je zuvor
Welt.de: Die Methodik des Wahnsinns

Bildquelle:

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