Samstag, 10. November 2018

Sehr geehrter Herr Spahn,

© BMG
wenn es um die ganz großen Fragen geht, ist Ihnen nichts mehr heilig. Die ganz großen Fragen - ich spreche hier nicht von der Frage nach dem Sinn des Lebens, von der Klimakrise, der europäischen Solidaritätskrise oder den monströsen Müllansammlungen in den Ozeanen. Nicht einmal vom Pflegenotstand, der ja immerhin in Ihren Aufgabenbereich als Gesundheitsminister fällt. Nein, die größte aller Fragen aus der Perspektive eines Jens Spahn ist die:Wer wird neue*r CDU-Parteivorsitzende*r? Und alles andere muss sich bis zur Entscheidung dem Ziel unterordnen, dafür zu sorgen, dass Sie selbst diesen Posten erobern und sich damit möglicherweise den Weg ins Kanzleramt ebnen.

Folglich entfalten Sie in der letzten Zeit die absurdesten Aktivitäten, um auf sich aufmerksam zu machen. Schon vor Angela Merkels Ankündigung, nicht noch einmal für den CDU-Vorsitz kandidieren zu wollen - insbesondere in diesem Jahr seit der Bundestagswahl, in dem ununterbrochen Merkels Führungsschwäche und ihre baldige Ablösung beschworen wurde - haben Sie sehr klar gemacht, dass Sie ihr nachzufolgen gedenken. Um diesen Anspruch zu untermauern fühlten Sie sich als Gesundheitsminister zuständig für die Geflüchtetenpolitik, erklärten im Brustton der Überzeugung (und mit dem Einkommen eines Bundesministers im Rücken), mit Hartz 4 sei man ja noch lange nicht arm und in der Abtreibungsdebatte meldeten Sie sich mit einem eigenwilligen Vergleich zum Tierschutz zu Wort.

Jüngstes Beispiel für dieses ständige, fingerschnippend-penetrante Attention-whoring im Kampf um die christdemokratische Krone ist Ihr Vorschlag, die Sozialbeiträge für Menschen ohne Kinder zu erhöhen. Die Begründung, Familien seien auf diese Weise zu entlasten, hört sich ja im Grunde ganz nett an. Das Problem ist, dass Menschen ohne Kinder nicht automatisch mehr Geld haben, als Eltern. Würden alle Menschen hier im Land gleich viel Geld verdienen, dann wäre es nicht ganz unlogisch, diejenigen zu entlasten, die zusätzliche Ausgaben für ihre Kinder haben und dafür diejenigen stärker zu belasten, die diese Ausgaben nicht haben. Schließlich profitieren - wie Sie richtig anmerkten, letztendlich alle von diesen Kindern - und sei es nur dadurch, dass die heutigen Kinder später die Rente ihrer Elterngeneration bezahlen.
Leider bekommen aber nicht alle Menschen gleich viel Geld und aus diesem Grund setzt Ihr Vorschlag gneau an der falschen Stelle an. Umverteilung (auch, wenn Sie das Wort wahrscheinlich nicht mögen: Es passt!) ist nur sinnvoll, wenn die, die einen Überfluss haben, dabei etwas abgeben müssen und dafür diejenigen etwas dazubekommen, bei denen Mangel herrscht. Ihr Vorschlag orientiert sich aber nicht an den Kategorien "Überfluss" und "Mangel", sondern schlicht und ergreifend an der Produktion eines von Ihnen geschätzten Guts: Künftiger Arbeitskräfte. Erleichterungen und Mehrbelastungen wie Sie sie planen müssen daran festgemacht werden, welche Menschen in Relation zu ihrem individuellen Bedarf nicht genügend Geld haben und welche mehr haben, als sie brauchen. Beim Ermitteln des Bedarfs müssen Kinder natürlich eine Rolle spielen - wer aber 5000 Euro Netto im Monat verdient, braucht auch dann nicht auf Kosten eines für den Mindestlohn angestellten Menschen bessergestellt zu werden, wenn erstere Person Kinder hat und die zweite nicht.

Nun haben Sie sich schon seit längerer Zeit alle Mühe gegeben, sich als Merkel-Nachfolger in Positur zu werfen und haben auch erreicht, dass man Ihren Namen inzwischen deutschlandweit kennt und zuordnen kann. Eine Weile lang galten Sie auch als Favorit des rechten Unionsflügels für die Merkel-Nachfolge.
Dann kam Merz.
Jüngste Umfragen sehen Sie weit abgeschlagen auf dem dritten Platz hinter Annegret Kramp-Karrenbauer und dem konservativ-marktliberalen einstigen Merkel-Konkurrenten, die sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern - und zwar sowohl bei einer Befragung in der Gesamtbevölkerung als auch unter CDU-Mitgliedern. Zwar sind letztendlich nur die Delegierten auf dem Parteitag stimmberechtigt, aber bei einem Rückstand von 20-25% bei den Umfragen sieht es für Sie trotzdem nicht rosig aus.
In dieser Situation sei die Frage erlaubt: Was, wenn Sie verlieren? Was, wenn eine*r der anderen beiden Kandidat*innen das Rennen macht? Woran richtet ein Jens Spahn seine Politik aus, wenn es auf absehbare Zeit keinen Parteivorsitz und keine Kanzlerschaft zu gewinnen gibt? Widmen Sie sich sofort mit aller Kraft dem Sturz des oder der siegreichen Konkurrent*in? Oder resignieren Sie - und fangen zur Abwechslung mal an, nicht über die aufmerksamkeitsträchtigsten, sondern über die sinnvollsten Äußerungen nachzudenken? Sie sind bestimmt kein unfähiger Politiker - wenn Sie erst einmal anfangen, Politik als inhaltliche Arbeit an wichtigen Themen und nicht nur als Karriere zu begreifen.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

welt.de: Spahn verteidigt seine "schräge Idee"
zdf.de: CDU-Vorsitz - Kramp-Karrenbauer mit knappem Vorsprung vor Merz
waz.de: Hartz IV bis Abtreibung - Jens Spahns kontroverseste Zitate

Bildquelle:

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/pressefotos.html

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