Freitag, 8. Juni 2018

Sehr geehrte Europäer*innen,

ja, ich spreche Sie an. Sie, die Sie sich nicht einem engen Nationalstaat verpflichtet fühlen, sondern sich für die Idee begeistern, Grenzen zwischen Menschen abzubauen und nicht immer als erstes zu fragen, wo jemand herkommt. Eine gren
zenlose Welt voller glücklicher Menschen ist ein so unglaublich naiver Traum, dass viele ihn gar nicht erst zu träumen wagen, doch einen ersten winzigen Schritt in diese Richtung können wir mit der europäischen Einigung gehen - wenn wir die Sache richtig anpacken.

Und an dieser Stelle ist es auch schon vorbei mit den schönen Träumen, denn hier wartet die harte Realität und die Tatsache, dass die Vorstellungen davon, was "richtig" ist, offenbar weit auseinanderklaffen. Aktuelles Beispiel ist das Projekt "Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion", das schon seit längerer Zeit auf dem Tisch liegt, aber gerade ordentlich Fahrt aufnimmt.
Zynisch ist zunächst schon mal, dass die EU, die sich ja als Friedensprojekt begreift und auch über diese Deutung legitimiert (längste Friedensperiode zwischen Mitgliedsstaaten!), überhaupt die Rüstungsindustrie fördert. Und Moment mal - war da nicht auch etwas mit dem Friedensnobelpreis...? Wie dem auch sei, es wird alles immer noch schlimmer. Während es ursprünglich hieß, dass weder autonome Waffensysteme noch Streumunition, Brandwaffen und Landminen durch EU-Gelder gefördert werden dürften - Punkte, die vom EU-Parlament durchgesetzt worden waren - schlug der Rat der Europäischen Union nun vor, die Förderung autonomer Waffen doch zuzulassen. Außerdem sollte der Export dieser Waffen in Nicht-EU-Staaten erlaubt werden, was bislang ebenfalls nicht erlaubt wäre.
Das spannende an der ganzen Sache: Im Trilog zwischen Rat, Parlament und Kommission gab es ja bereits eine Einigung. Trotzdem stimmte die konservative Verhandlungsführerin des Parlaments dem Plan zu. Von EU-Parlamentarier*innen von Grünen und Linken heißt es nun, sie habe ihr Verhandlungsmandat überschritten und eine nachträgliche Änderung eines Trilog-Beschlusses sei ohnehin nicht akzeptabel. Der Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer erwägt sogar eine Klage.

Letztlich zeigt sich an der ganzen Sache, was man ohne Weiteres schon lange hätte wissen können: Es macht nicht viel Sinn, die Zusammenführung der europäischen Verteidigungspolitik auszurufen, solange wir uns noch nicht einig sind, wie genau darüber künftig entschieden werden soll. Im aktuellen politischen System auf europäischer Ebene hat das Parlament als einzige direkt gewählte und damit am besten legitimierte Körperschaft zwar weitaus mehr Macht als früher, ist dem Rat und damit den Mitgliedsstaaten aber immer noch weit unterlegen. So hat das Parlament immer noch nicht die Möglichkeit, Gesetzesvorschläge einzubringen und nur die Mitgliedsstaaten dürfen die Kommissar*innen vorschlagen, die dieses Recht haben. Das Parlament darf diese Wahl dann nur noch abnicken. Wie soll ein Parlament mit so wenig Einfluss die Interessen der Bürger*innen in verteidigungspolitischen Fragen effektiv vertreten? In die Hände dieser Union können wir keine Entscheidungen legen, die über das Leben und Sterben von (auf lange Sicht) Millionen Menschen entscheiden. Schon gar nicht, wenn wir den Appell, der dem an die EU verliehenen Friedensnobelpreis innewohnt, ernst nehmen und gleichzeitig wie im aktuellen Fall sehen können, dass diesem Appell auf europäischer Ebene brutal zuwidergehandelt wird.

Aber was können wir tun? Das einfachste wäre: Wählen! Und vorher genau überprüfen, welche Zukunft Europas sich die Parteien so wünschen und welche Änderungen sie am politischen System der EU vornehmen wollen. Aber Achtung: Nicht nur die EU-Parlamentswahlen nächstes Jahr zählen. Wichtig sind auch die Wahlen zu den nationalen Parlamenten (ja, ich weiß, dass die Bundestagswahl gerade vorbei ist...), um auch im Ministerrat eine progressive Mehrheit zu schaffen.

Go Europe!

HG

Der Hintergrund:

European Commission: European Defence Fund and EU Defence Industrial Development Programme
taz.de: Verbale Schlacht um Killerrobotter

Bildquelle:

https://pixabay.com/de/fahne-flagge-europa-europafahne-3370970/

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