Freitag, 22. Juni 2018

Sehr geehrter Herr Avramopoulos,

es ist ganz klar, dass die Regierungskrise in Deutschland und damit auch der Streit zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer auch Politiker*innen auf europäischer Ebene beschäftigt. Schließlich ist Deutschland sowohl wirtschaftlich als auch politisch der mächtigste Mitgliedsstaat der Union. Was hier passiert, geht alle anderen auch etwas an.
Ihr Interesse ist also vollkommen gerechtfertigt. Nicht gerechtfertigt ist es jedoch, wenn ein Mitglied der Europäischen Kommission, noch dazu der Kommissar für Inneres, Migration und Bürgerschaft, der bei der Frage nach dem Umgang mit Geflüchteten eigentlich eine europäische Vision verkörpern sollte, den rechtspopulistischen Forderungen einer Regionalpartei hinterherrennt, die hofft, auf diese Weise die nächsten Landtagswahlen zu gewinnen. Horst Seehofer macht in Berlin Wahlkampf für seine CSU, die um ihre absolute Mehrheit in Bayern bangt. Er prügelt munter auf die Grundfesten der neuen/alten Regierungskoalition ein und nebenbei noch auf allem herum, was der deutschen und der europäischen Politik an Menschlichkeit geblieben ist - was angesichts der inzwischen fast überall etablierten Selbstverteidigungsrhetorik in Bezug auf die Ankunft von Geflüchteten ohnehin schon nicht mehr allzuviel sein kann. Angela Merkel - ihres Zeichens überzeugte Europäerin - spricht zwar von europäischen Lösungen, weicht aber jede starke Position solange in Kompromisslösung ein, bis dann doch wieder etwas herauskommt, mit dem sich Seehofer brüsten kann.

Während die deutsche Regierung also versagt und droht, die Rückkehr zu nationalen Alleingängen und innereuropäischen Grenzkontrollen zu zementieren, was macht währenddessen der zuständige Kommissar? Fordert Auffanglager in den Maghrebstaaten, will auch die Zurückweisung von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen durchsetzen und stellt dann (natürlich ohne schlüssige Begründung) die These auf, "Wer es in ein Boot schaff[e], [dürfe] deshalb keine freie Fahrt in die EU haben". Bravo! Endlich sind wir da angekommen, wo wir schon immer hin wollten: Beim neuen Europa-Nationalismus. Die EU-Außengrenzen werden abgeriegelt, wer nicht aus Europa kommt hat keinen Anspruch auf Hilfe. Dieses große ideologische Gebilde, das immer gerne als "die europäische Idee" verkauft wurde, entpuppt sich als ein Widergänger nationalistischer Egoismen und Ausgrenzungsfantasien. Ist das wirklich das, was Sie sich unter Europa vorstellen?

Die EU hatte schon immer den Anspruch, mehr als eine Wirtschaftsunion zu sein. Die Idee einer "ever closer union", der oft mit Stolz wiederholte Hinweis, für die längste Friedensphase verantwortlich zu sein, die es je zwischen den Mitgliedsländern gab, all das zeigt, dass immer schon die Idee vorherrschte, diesem Bündnis eine größere Bedeutung zu geben. Als nationalistische Regimes die Welt kurz nacheinander in zwei furchtbare Kriege gestürzt hatten und aus National- und Rassenstolz die schlimmsten Greuel entstanden waren, keimte die Erkenntnis, dass Nationalismus und Ausgrenzung, dass das Für-sich-allein-kämpfen und das Sich-über-andere-erheben an sich schädlich ist und bekämpft werden muss. So fehlerhaft und dysfunktional sie heute auch sein mag, die Europäische Union hat einen unglaublich wichtigen Kern, den wir schützen und verteidigen müssen: Die Überzeugung, dass Nationalismus und Spaltung der Völker dieser Erde nur zum Schlimmsten führen kann.

Wenn wir jetzt aber den neuen Europa-Nationalismus ausrufen, was haben wir dann eigentlich geändert? Die Grenzen sind etwas weiter, vielleicht vertragen sich die Völker innerhalb dieser Grenzen irgendwann etwas besser, wer weiß. Das grundlegende Prinzip bleibt aber dasselbe.
Wollen wir dem europäischen Gedanken treu bleiben, so dürfen wir Europa nicht als letztes Ziel, sondern müssen es als einen Zwischenschritt verstehen. Letztlich geht es nicht darum, dass Sie oder ich nach Frankreich reisen können, ohne unseren Ausweis vorzeigen zu müssen. Die EU-Außengrenze trennt Menschen genauso willkürlich, wie es die nationalen Grenzen tun. Wenn wir dafür kämpfen wollen, Grenzen zu erweitern, dann muss es in letzter Instanz darum gehen, sie ganz abzuschaffen, und zwar nicht nur und nicht zuerst für multinationale Konzerne, die gerne ungehindert Handel treiben wollen, sondern in erster Linie für Menschen, die sich vielleicht irgendwann nicht mehr als Deutsche, Griechen oder Iraner*innen verstehen, sondern einfach als freie Weltbürger*innen.

Wenn Sie die Europäische Union mit ihrem idealistischen Selbstbild ernst nehmen, dann sind Sie genau dieser Vision verpflichtet. Menschen in Not an der EU-Außengrenze abzuweisen und sie in autokratischen Regimes in Lager sperren zu lassen wird diesem Anspruch nicht gerecht. Von Ihnen als führendem Beamten der EU in Sachen Migration erwarte ich, dass Sie Ihre Politik in dieser Sache an Fragen der Menschlichkeit orientieren und nicht an den Panikattacken einer wahlkämpfenden Regionalpartei mit Angt vor Machtverlust.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

wr.de: EU bereitet Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik vor
faz.net: Geballter Widerstand

Bildquelle:

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/69/Dimitris_Avramopoulos_at_the_Pentagon_April_2012.jpg

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen