Freitag, 20. Juli 2018

Sehr geehrter Herr Corbyn,

wie hat man sich als Mensch im linken politischen Spektrum gefreut, als Sie als Vertreter des linken Flügels der Labour-Partei 2015 zum Parteichef gewählt wurden! "New Labour" hatte nie so richtig den Glanz des Aufbruchs, den das Branding verheißt, und viele freuten sich, dass die linkere der beiden relevanten britischen Parteien sich endlich vom Werben um die "politische Mitte" verabschieden könnte, um gewissermaßen endlich zu ihrer eigenen Mitte zurückzufinden.

Dass diese Freude nicht ganz ohne Wermutstropfen bleiben würde, war spätetens im Vorfeld des Brexit-Referendums 2016 zu spüren. Sie, Herr Corbyn, haben sich da um klare Stellungnahmen gedrückt, offensichtlich, weil Ihre EU-kritische Haltung sich nicht mit dem Pro-EU-Kurs eines großen Teils Ihrer Parteigenoss*innen deckte. Gerade unter den jungen Leuten, die die regierenden Tories gerne abgelöst gesehen hätten, gleichzeitig aber als EU-Bürger*innen aufgewachsen sind, sorgte das für Verstimmung.

Richtig finster wird es aber erst, wenn es um die zahlreichen Antisemitismusvorwürfe geht, denen Sie über die Jahre ausgesetzt waren. Natürlich werden Sie sich selbst nicht als Antisemiten sehen, aber genau das ist das Problem: Niemand ist sich der eigenen Vorurteile bewusst. Neben ein paar Rechtsextremen, die den Feind ihres Volkes ausgemacht zu haben glauben und von dieser Überzeugung nicht mehr abzubringen sind, gedeiht der Antisemitismus gerade unter denjenigen Menschen, die sich sicher sind, keine Antisemiten zu sein.

Das aktuelle Geschehen könnte für diese gefährliche Entwicklung in Ihrer Partei kein besseres Beispiel geben: Nachdem es schon seit längerer Zeit immer wieder Kritik aus der jüdischen Community am Umgang mit antisemitischen Äußerungen in der Labour Party gibt, hat der Labour-Parteivorstand kurzerhand beschlossen, sich eine eigene Definition von Antisemitismus zu basteln. Umstrittenster Punkt: das Gleichsetzen von jüdischen Israel-Unterstützern mit Nazis soll nur noch dann als Antisemitismus gelten, wenn die entsprechende Äußerung auch in antisemitischer Absicht getätigt wurde.
Das macht die Definition zu einer Ent-Definition: Ein vormals relativ klar umrissener Begriff wird seiner Konturen beraubt und damit eigentlich unbrauchbar gemacht. Was ist denn noch antisemitisch, wenn man immer erst fragen muss, ob die judenfeindliche Beleidigung denn auch judenfeindlich gemeint war?
Das Antisemitismusproblem in der Labour Party wurde damit erfolgreich wegdefiniert. Glückwunsch! Übrigens: Auch im Rest der Gesellschaft gibt es nach Ihren Vorstellungen von dem Begriff so gut wie keinen Antisemitismus mehr. Ist doch alles nicht so gemeint, oder?
Wäre das nicht auch ein Ansatz für andere gesellschaftliche Problemfelder? Hunger ist, wenn ein Mensch weniger als halb so viel Essen hat, wie am Vortag: Zack! Keine Hungersnöte mehr auf der Welt. Von Erhitzung ist erst zu sprechen, wenn die Erde halbe Sonnentemperatur erreicht hat: Klimakatastrophe? Wo denn? Man sieht: Wahre Macht ist Definitionsmacht.

Fast jedes Problem lässt sich auf diese Weise aus der Statistik herausrechnen. Man muss nur zynisch genug sein, es auch durchzuziehen. Von einer Partei, die sich als links versteht, erwarte ich Besseres. Vor allem, wenn es um den Umgang mit Vorurteilen und Hass gegen Juden geht. Schließlich ist der Kampf gegen Antisemitismus immer auch der Kampf gegen einen zentralen Bestandteil der Nazi-Ideologie. Selbst wenn sonst in keinem Punkt, an dieser Stelle müssen wir uns einig sein.

Mit freundlichen Grüßen

HG

Der Hintergrund:

taz.de: Jüdin kritisiert Corbyn? Aufruhr!

Bildquelle:

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(c) Chris Andrews (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/legalcode)

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